RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE
VORTRAGE
VORTRAGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT
RUDOLF STEINER
Der Christus-Impuls
und die Entwickelung des Ich-Bewufitseins
Sieben Vortrage, gehalten in Berlin
zwischen dem 25. Oktober 1909 und 8. Mai 1910
1982
RUDOLF STEINER VERLAG
DORN ACH/SCHWEIZ
Nach einer vom Vortragenden nicht durchgesehenen Nachschrift
herausgegeben von der Rudolf Steiner-Nachlafiverwaltung
Die Herausgabe dieser Auflage besorgte Hella Wiesberger
1. Auflage (Zyklus 17), Berlin 1921
2. Auflage, Dornach 1933
3. Auflage, Gesamtausgabe Dornach 1961
4., neu durchgesehene Auflage
Gesamtausgabe Dornach 1982
Bibliographie-Nr. 116
Siegelzeichnung auf dem Einband nach einem Entwurf von Rudolf Steiner
Alle Rechte bei Rudolf Steiner-Nachlafiverwaltung, Dornach/ Schweiz
© 1982 by Rudolf Steiner-Nachlafiverwaltung, Dornach/Schweiz
Printed in Germany by Greiserdruck, Rastatt
ISBN 3-7274-1160-0
2,u den Veroffentlichungen
am dem Vortragswerk von Rudolf Steiner
Die Grundlage der anthroposophisch orientierten Geisteswissen-
schaft bilden die von Rudolf Steiner (1861 - 1925) geschriebenen und
veroffentlichten Werke. Daneben hielt er in den Jahren 1900 bis
1924 zahlreiche Vortrage und Kurse, sowohl offentlich wie auch for
die Mitglieder der Theosophischen, spater Anthroposophischen
Gesellschaft. Er selbst wollte urspriinglich, dafi seine durchwegs
frei gehaltenen Vortrage nicht schriftlich festgehalten wiirden, da sie
als «mundliche, nicht zum Druck bestimmte Mitteilungen» gedacht
waren. Nachdem aber zunehmend unvollstandige und fehlerhafte
Horernachschriften angefertigt und verbreitet wurden, sah er sich
veranlafit, das Nachschreiben zu regeln. Mit dieser Aufgabe betraute
er Marie Steiner-von Sivers. Ihr oblag die Bestimmung der Steno-
graphierenden, die Verwaltung der Nachschriften und die fur die
Herausgabe notwendige Durchsicht der Texte. Da Rudolf Steiner
aus Zeitmangel nur in ganz wenigen Fallen die Nachschriften selbst
korrigieren konnte, mufi gegeniiber alien Vortragsveroffentlichun-
gen sein Vorbehalt beriicksichtigt werden: «Es wird eben nur hinge-
nommen werden mussen, dafi in den von mir nicht nachgesehenen
Vorlagen sich Fehlerhaftes findet.»
Uber das Verhaltnis der Mitgliedervortrage, welche zunachst nur
als interne Manuskriptdrucke zuganglich waren, zu seinen offent-
lichen Schriften aufiert sich Rudolf Steiner in seiner Selbstbio-
graphie «Mein Lebensgang» (35. Kapitel). Der entsprechende Wort-
laut ist am Schlufi dieses Bandes wiedergegeben. Das dort Gesagte
gilt gleichermafien auch fur die Kurse zu einzelnen Fachgebieten,
welche sich an einen begrenzten, mit den Grundlagen der Geistes-
wissenschaft vertrauten Teilnehmerkreis richteten.
Nach dem Tode von Marie Steiner (1867-1948) wurde gemafi
ihren Richtlinien mit der Herausgabe einer Rudolf Steiner Gesamt-
ausgabe begonnen. Der vorliegende Band bildet einen Bestandteil
dieser Gesamtausgabe. Soweit erforderlich, finden sich nahere An-
gaben zu den Textunterlagen am Beginn der Hinweise.
INHALT
Erster Vortrag, Berlin, 25. Oktober 1909
Die Sphare der Bodhisattvas
Die Bodhisattvas als die grofien Lehrer der Menschheit bei ihrem Fort-
schreiten innerhalb der Kulturepochen von Lebensform zu Lebensform.
Die Verwendung der menschlichen Organisation bei ihrem Durchgang
durch die einzelnen Zyklen der Kuiturentwickelung. Die Vorbereitung
der Bewufitseinsseele einerseits durqh Buddhas Lehre von Mitleid und Lie-
be, andererseits durch die musikalische Kultur des Bodhisattva Apollo, der
in Orpheus zum Buddha wurde. Christus und die zwolf Bodhisattvas, von
denen sechs den Christus-Impuls vorbereiten, die anderen sechs ausbauen,
was der Christus der Erdenentwickelung gibt.
Zweiter Vortrag, 22. Dezember 1909 . .
Das Karmagesetz in bezug auf Einzelheiten des Lebens
Das Karmagesetz von den geistigen Zusammenhangen zwischen Vergan-
genhek, Gegenwart und Zukunft und im Leben zwischen Geburt und
Tod. Karmische Wirkungen bei Bemfswechsel. Auswirkungen der Ju-
genderlebnisse im Alter. Die Mission des Zornes und der Andacht. Die
Berucksichtigung des Karmagesetzes in der Erziehung. Karmische Wir-
kungen von Erdenleben zu Erdenleben. Wesen von Schmerz und Krank-
heit. Die karmische Bedeutung der Starkung der Heilkrafte bei der
Bekampfung von Krankheit. Die Erarbeitung von Einzelwahrheiten der
Geistesforschung, zum Beispiel des Karmagesetzes, starkt den Wesenskern
des Menschen und gibt ihm Lebenskraft und Sicherheit.
Dritter Vortrag, 2. Februar 1910
Das Eintreten des Christus in die Menschheitsentwickelung
Der Einzug des Ich in die menschliche Wesenheit in der lemurischen Zeit.
Der luziferische Einflufi und seine Folgen: Egoismus (Astralleib), Irrtum
und Luge (Atherleib), Krankheit und Tod (physischer Leib). Ihre Uber-
windung und Umwandlung durch den Christus-Impuls. Der Herabstieg in
die Materie durch die verschiedenen Zeitalter (das goldene, das silberne,
eherne, finstere Zeitalter). Die Vorbereitung des Christus-Impulses durch
die Jahve-Religion. Das Gesetz des Moses. Die Zehn Gebote. Das Vorbild
und die Kraft Christi. Die Seligpreisungen der Bergpredigt. Die Wirkung
des Christus-Impulses auf die neun Wesensglieder des Menschen. Neue
Fahigkeiten, die nach dem Ablauf des Kali Yuga auftreten, ermoglichen
die Aufnahme neuer Beziehungen zum Christus.
Vierter Vortrag, 8 . Februar 1910 79
Die Bergpredigt
Die Notwendigkeit der physischen Verkorperung des Christus. Ihre Vor-
bereitung als ein Teil der Mission des althebraischen Volkes. Der salomo-
nische Jesus und die Anlage zur Vollkommenheit seiner siebengliedrigen
Menschennatur schon bei Salomo. Die sieben Namen des Salomo als Be-
zeichnungen seiner sieben Hiillen. Die einzelnen Seligpreisungen der Berg-
predigt schildern die Wirksamkeit des Christus-Impulses innerhalb der
neungliedrigen Wesenheit des Menschen. Das Ende des Kali Yuga im Jahre
1899 und der Beginn eines neuen atherischen Hellsehens. Die Geistes-
wissenschaft als Vorbereitung, um Christus im Atherleibe schauen zu
konnen. Materialistischer Messiasglaube. Falsche Messiasse (zum Beispiel
Sabbatai Zewi).
Funfter Vortrag, 9. Marz 1910 101
Entsprechungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos
Zweiheiten (Polaritaten) und hohere Einheiten. Nordliche und siidliche
Initiation, germanische und agyptische Mysterien fliefien zusammen in der
christlichen Initiation als der hoheren Einheit. Die Trennung der Einheit
der Geschlechter in der lemurischen Zeit und eine neue Einheit in ferner
Zukunft. Der Gegensatz von Sonne und Erde im Menschen als Gegensatz
von Kopf und Gliedmafien. Die Entwickelung der menschlichen physi-
schen Gestalt und ihre Verzeichnung im Mannlichen und Weiblichen.
Mannliches und Weibliches verhalten sich im Menschen wie Lunarisches
und Kometarisches im Kosmos. Die Bedeutung der Kometen. Der Halley'-
sche Komet. Er gibt den Impuls, tiefer in den Materialismus hineinzufuh-
ren. Der Ablauf des Kali Yuga, das neue Atherhellsehen und das Erschei-
nen des Christus im Atherischen. Das Marchenland Schamballa der orien-
talischen Philosophic
Sechster Vortrag, 2. Mai 1910 122
Die Entstehung des Gewissens
Die Entwickelung menschlicher Seelenfahigkeiten durch die aufeinander-
folgenden Inkarnationen. Entstehung des Gewissens zur Zeit, da der Chri-
stus-Impuls in die Welt hereintritt. Die Ausbildung der Empfindungsseele
(agyptische Kultur), der Verstandesseele (griechisch-lateinische Kultur),
der Bewufkseinsseele in der funften nachatlantischen Periode. Wahrend
der agyptischen Kultur entwickelt sich in Europa das Ich, aber ohne
besonders hohe Kultur; in Agypten und Chaldaa ein reiches Wissen iiber
die geistige Welt, doch fast gar kein Ich-Bewufitsein; in der griechisch-latei-
nischen Kultur halt sich beides die Waage. In Asien wird die Erscheinung
des Christus vorbereitet, in Europa das Christus-Verstandnis. Aus der
Durchdringung der Empfindungsseele mit dem Ich-Gefiihl bildet sich als
Seelenkraft das Gewissen. Im Osten taucht in geistig-seelischer Form die
Liebe auf, im Westen dringt aus den Tiefen der Seele das Gewissen hervor.
Siebenter Vortrag, 8. Mai 1910 143
Riickschau und Vorschau. Das neue Christus-Ereignis. Die
Weiterbildung des Gewissens
Zum Todestag von Blavatsky, der Begriinderin der theosophischen Bewe-
gung. Letztere als geschichtliche Notwendigkeit, um neues geistiges Leben
in die Menschheitsentwickelung einstromen zu lassen. Ahnliche Impulse
gingen aus von den Rishis, Zarathustra und Moses. Der Christus-Impuls.
Die Leugnung des historischen Jesus (A. Drews «Christus-Mythe»). Not-
wendigkeit, den historischen Jesus auf geistige Art zu begreifen durch eine
Erneuerung des Ereignisses von Damaskus. Blavatskys Anregungen mus-
sen weitergebildet werden. Ihr waren die alt- und neutestamentlichen
Offenbarungen verschlossen. Die theosophische Bewegung mufi das Chri-
stus-Ereignis begreifen. Weiterbildung menschlicher Fahigkeiten im Fort-
schreiten der Menschheit: das Gewissen wird zur Fahigkeit werden, ein
inneres Gegenbild zu schauen von getanen Taten, von deren karmischer
Erfiillung, die einmal eintreten wird, Paulinisches Christentum. Erkennt-
nistheorie im Sinne des Paulus.
Hinweise 167
Rudolf Steiner uber die Vort ragsnachschriften 171
Ubersicht iiber die Rudolf Steiner Gesamtausgabe 1 73
ERSTER VORTRAG
Berlin, 25. Oktober 1909
Heute, gelegentlich der Generalversammlung, obliegt es mir, iiber
eine hohe Angelegenheit der Menschheit zu sprechen. Nachdem wir
uns sonst in den Vortragen iiber Anthroposophie bemiihen, ein
mehr auf dem physischen Plan wurzelndes Fundament zu legen,
darf wohl heute von hoheren Welten Angehorendem gesprochen
werden. Lassen Sie mich als Vorbemerkung noch einmal erwahnen,
dafi wir uns gewohnen sollen auch iiber die hoheren Angelegenhei-
ten der Menschheit so zu sprechen, daft wir nicht zufrieden sind mit
der einseitigen Angabe der Daten aus der hoheren Welt, so dafi etwa
im allgemeinen definiert wird der Begriff der Bodhisattvas, von de-
nen heute die Rede sein soil, und dann angegeben wird, welche Mis-
sion sie haben, sondern wir sollen uns auch hier angewohnen, aus
dem Abstrakten in das Konkrete uberzugehen. Versuchen wollen
wir, auch solche hohen Angelegenheiten wie die der Bodhisattvas
mit den Ideen und Empfindungen zu durchdringen, die uns eigen
sind aus einer griindlichen und liebevollen Betrachtung des Lebens,
wodurch wir die Tatsachen nicht nur als eine Mitteilung empfangen,
sondern sie auch bis zu einem gewissen Grade verstehen konnen.
Deshalb mochte ich auch in dieser Betrachtung von unten aufsteigen
und mir zum Ziele setzen, mehr als in einer schematischen Darstel-
lung den Begriff des Bodhisattva und seinen Wandelgang durch die
Welt ein wenig zu charakterisieren.
Was ein Bodhisattva ist, konnen wir eigentlich gar nicht verstehen,
wenn wir uns nicht etwas vertiefen in den Entwickelungsgang der
Menschheit und manches vor uns hintreten lassen, was wir in den
aufeinanderfolgenden Jahren gehort haben. Nehmen Sie nur einmal
die Tatsache, wie die Menschheit weiterschreitet. Nach der grofien
atlantischen Katastrophe hat die Menschheit eine Periode der alten
indischen Kultur durchgemacht, wo die grofien Rishis die Lehrer der
Menschheit waren, dann eine Periode der urpersischen Kultur, eine
Periode der agyptisch-chaldaischen Kultur, dann die griechisch-latei-
nische Kulturperiode, bis hinauf in unsere Zeit, welche die fiinfte
Kulturperiode der nachatlantischen Zeit ist. Diese Kulturepochen
haben dadurch einen Sinn, dafi sie ein Weiterschreiten der Mensch-
heit von Lebensform zu Lebensform bedeuten.
Es ist ja so, daft nicht nur dasjenige fortschreitet, was man gewohn-
lich in der aufieren Geschichte schildert, sondern wenn man langere
Zeitraume ins Auge fafk, wandeln und erneuern sich auch alle Emp-
findungen und Gefuhle, alle Begriffe und Ideen im Verlaufe der
Menschheitsentwickelung. Was wiirde es fiir einen Sinn haben, die
Idee der Wiederverkorperung oder Reinkarnation zu vertreten,
wenn man nicht wufite, daft das so ist in der Welt? Wozu sollte ei-
gentlich unsere Seele immer wieder in einen irdischen Leib eintre-
ten, wenn sie nicht jedesmal Neues nicht nur zu erleben, sondern
auch zu empfinden und zu fuhlen hatte? Dadurch, dafi auch die Fa-
higkeiten der Menschen, auch die Intimitaten des Seelenlebens im-
mer wieder neue werden, sich verandern, dadurch ist es moglich,
dafi unsere Seele nicht nur wie auf einer Treppe hinaufsteigt von Stu-
fe zu Stufe, sondern jedesmal ist auch fur sie Gelegenheit vorhanden,
von auften, durch die Verwandlung der Lebensverhaltnisse unserer
Erde, Neues in sich aufzunehmen. Nicht blofi durch ihre Verfehlun-
gen, durch ihre karmischen Siinden wird unsere Seele von Inkarna-
tion zu Inkarnation gefiihrt; sondern weil unsere Erde in alien ihren
Lebensverhaltnissen sich andert, ist es moglich, dafi unsere Seele im-
mer wieder Neues auch von auften aufnehmen kann. Daher schreitet
die Seele vorwarts von Inkarnation zu Inkarnation, aber auch von
Kulturzyklus zu Kulturzyklus.
Nun wiirde aber diese Seele nicht vorwartsschreiten, sich nicht
entwickeln konnen, wenn nicht jene Wesenheiten, die eine hohere
Entwickelung bereits erlangt haben und also in irgendeinem Grade
iiber die Durchschnittsentwickelung der Menschheit hinausgehen,
dafiir sorgen konnten, dafi immer wieder Neues einfliefien kann in
unsere Erdenkultur, mit anderen Worten: wenn nicht grofie Lehrer
wirkten, die durch ihre hohere Entwickelung aus den hoheren Wel-
ten die Erlebnisse und Erfahrungen aufnehmen und hinuntertragen
konnen auf den Schauplatz des irdischen Kulturlebens. Immer wa-
ren in der Zeit der Erdenentwickelung - und wir reden heute nur
von der nachatlantischen Entwickelung - solche Wesenheiten vor-
handen, die die Lehrer der anderen Menschheit waren, denen hohere
Empfindungsquellen und Willensmoglichkeiten geoffhet sind. Wir
konnen das Wesen solcher Lehrer der Menschheit nur verstehen,
wenn wir uns klarmachen, wie diese Menschheit selber vorschreitet.
Sie haben gestern und heute in zwei ausgezeichneten Vortragen
unseren lieben Dr. Unger liber das Ich und iiber das Ich in seinem
Verhaltnis zum Nicht-Ich, in philosophischer und erkenntnistheore-
tischer Weise sprechen gehort. Glauben Sie nun, dafi Sie dasjenige,
was Sie gestern und heute durch Menschenmund, aus Menschenden-
ken heraus gehort haben, in dieser Form hatten horen konnen vor
etwa 2500 Jahren? Nirgends auf unserer Erde ware eine Moglichkeit
gewesen, in der Form des reinen Denkens zum Beispiel iiber das
«Ich» zu sprechen. Nehmen wir an, es hatte sich irgendeine Indivi-
dualist in unser Erdendasein verkorpern wollen vor 2500 Jahren,
welche sich vor ihrer Verkorperung vorgenommen hatte, in dieser
eigenartigen Form, wie Sie das gehort haben, iiber das Ich zu spre-
chen, sie hatte es nicht tun konnen. Denn derjenige verkennt den
wirklichen Fortgang und die Verwandlungen innerhalb der Kul-
turentwickelung, der glauben wiirde, dafi so etwas vor 2500 Jahren
in dieser Form von Menschenmund hatte gesagt werden konnen.
Denn um das zu ermoglichen, dazu gehort nicht allein eine Indivi-
dualist, die sich vornimmt, in einen menschlichen Leib sich zu
verkorpern, sondern dazu gehort noch, dafi unsere Erde in ihrer
Entwickelung einen menschlichen Leib hergibt, der ein so einge-
richtetes Gehirn hat, dafi die Wahrheiten, die in den hoheren Wel-
ten in ganz anderer Art vorhanden sind, sich innerhalb dieses Ge-
hirnes zu dem formen konnen, was wir «reine Gedanken» nennen.
Denn diese Form, in der gestern und heute Dr. Unger iiber das Ich
vorgetragen hat, nennen wir die Form der reinen Gedanken. Vor
2500 Jahren hatte es kein menschliches Gehirn gegeben - das ware
ganz ausgeschlossen gewesen -, welches ein Werkzeug hatte sein
konnen, um derartige Wahrheiten in solche Gedanken herunter-
zufuhren.
Die Wesen, die auf unsere Erde heruntersteigen wollen, miissen
die menschlichen Leiber, die wiederum dieser Erdkreis selbst her-
vorbringt, benutzen. Aber unsere Erde hat durch die verschiede-
nen Kulturperioden hindurch immer andere Leiber hervorgebracht,
mit immer anderen Organisationen; und erst in unserer funften nach-
atlantischen Kulturperiode ist es moglich geworden, weil das
Menschengeschlecht selber solche Leiber hervorbringt, in denen
reine Gedanken sich bilden konnen, in der Form des reinen Gedan-
kens zu sprechen. Selbst in der griechisch-lateinischen Zeit ware eine
solche erkenntnistheoretische Betrachtung noch nicht moglich ge-
wesen, weil kein Instrument, kein Werkzeug da gewesen ware, um
diese Gedanken in einer menschenverstandlichen Sprache zu for-
men. Das ist gerade die Aufgabe unserer funften nachatlantischen
Kulturperiode: den Menschen in bezug auf seine physische Organi-
sation nach und nach als ein Werkzeug so zu gestalten, dafi in immer
reineren Gedanken auch diejenigen Wahrheiten herunterfliefien
konnen, die zu anderen Zeiten in ganz andere Formen als in die
Form des reinen Gedankens gefafit wurden.
Nehmen wir ein anderes Beispiel. Wenn heute der Mensch an die
Frage von Gut und Bose herantritt, wenn er dieses oder jenes tun
oder nicht tun soil, dann redet er davon, dafi eine Art innerer Stim-
me spreche, die ihm ganz unabhangig von einem aufieren Gesetz
sagt: Das sollst du tun, das sollst du nicht tun! - Wer hinhorcht auf
die innere Stimme, der vernimmt in ihr einen gewissen Impuls, eine
Anregung, im gegebenen Fall das eine zu tun, das andere zu lassen.
Wir nennen diese innere Stimme «das Gewissen». Wer nun der An-
sicht ist, da$ die einzelnen Zeiten der Menschheitsentwickelung sich
einander doch so ahnlich sehen, der konnte nun wieder glauben, dafi
es ein Gewissen immer gegeben hat, so lange Menschen auf der Erde
sind. Das ware aber nicht richtig. Es lafit sich sozusagen geschicht-
lich nachweisen, dafi einmal die Menschen angefangen haben, vom
Gewissen zu reden. Diese Zeit ist mit Handen zu greifen. Sie liegt
zwischen den beiden griechischen Tragikern, Aschylos, der im 6.
Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung geboren worden ist, und
Euripides, der im 5. Jahrhundert geboren worden ist. Vorher werden
Sie nicht finden, dafi vom Gewissen die Rede ist. Auch bei Aschylos
gibt es noch nicht das, was wir als innere Stimme bezeichnen, son-
dern bei ihm tritt noch das auf, was eine astralische Bilderscheinung
fur den Menschen ist: Es treten solche Erscheinungen auf, die sich
als rachende Wesen heranmachen an den Menschen, Furien oder
Erinnyen. Es trat eben der Zeitpunkt einmal ein, wo die astralische
Wahrnehmung der Furien ersetzt wurde durch die innere Stimme
des Gewissens.
Noch in der griechisch-lateinischen Zeit, in der bei einem grofien
Teil von Menschen das astralische dammerhafte Wahrnehmen noch
vorhanden war, konnte jemand, wenn er ein Unrecht getan hatte,
wahrnehmen, wie jedes Unrecht astralische Gestalten in seiner Um-
gebung schaffte, die ihn fiir das begangene Unrecht mit Angst und
Schrecken erfullten. Das waren die Erzieher, der Impuls dazumal.
Und als die Menschen die letzten Reste des astralischen Hellsehens
verloren, ersetzte sich diese Anschauung durch die unsichtbare Stim-
me des Gewissens, das heifk, was erst draufien war, das ging hinein
in die Seele und wurde da eine der Krafte, die jetzt in der Seele sind.
Das kam daher, weil sich die Menschheit, weil sich das aufiere In-
strument, in das der Mensch hineinverkorpert wird, im Verlaufe der
Entwickelung geandert hat. Vor fiinftausend Jahren hatte niemals
eine menschliche Seele die Stimme des Gewissens wahrnehmen kon-
nen; wenn sie etwas Unrechtes tat, hat sie die Furien wahrgenom-
men. In dieser Weise lernte damals die Seele sich in ein Verhaltnis zu
Gut und Bose zu setzen. Dann wurde sie immer wieder verkorpert
und endlich in einen Leib hineingeboren, dessen Organisation so
war, dafi nun die Fahigkeit des Gewissens in dieser Seele auftreten
konnte. In einem zukiinftigen Menschheitszyklus werden wieder
andere Fahigkeiten und andere Formen des Auslebens der Seele
vorhanden sein.
Ich habe schon ofter betont: Wer die Anthroposophie wirklich
versteht und sich nicht auf einen dogmatischen Standpunkt stellt,
der wird nicht glauben, dafi die Form, in welcher Anthroposophie
heute ausgesprochen wird, eine ewige sei, die so bleiben konnte fiir
die ganze zukiinftige Menschheit. Das ist nicht der Fall. Nach 2500
Jahren werden dieselben Wahrheiten nicht in diesen Formen mehr
verkiindet werden konnen, sondern in andere Formen gegossen wer-
den, je nach dem Instrument, das dann da sein wird. Wenn Sie das
beriicksichtigen, werden Sie sich dariiber klar sein, dafi in jedem Zeit-
alter in einer anderen Weise zu den Menschen gesprochen werden
mull, und dafi auch von den grofien Lehrern je nach den menschli-
chen Fahigkeiten in einer anderen Weise Stellung genommen wer-
den mufi. Das herfk aber, daft diese grofien Lehrer der Menschheit
selber Entwickelungen durchmachen miissen, von Zyklus zu Zy-
klus, von Lebensalter zu Lebensalter. So finden wir die Zyklen, wel-
che die Menschheit durchmacht, und wir finden, gleichsam dariiber-
stehend, eine fortschreitende Entwickelung der grofien Lehrer der
Menschheit. Und wie der Mensch gewisse Stufen durchmacht, in de-
nen er gewissermafien an Wendepunkte kommt, so machen auch
diese grofien Lehrer gewisse Stufen der Entwickelung durch, in
denen sie zu Wendepunkten kommen.
Denken Sie nur an das, was schon ofter gesagt worden ist: Wir le-
ben jetzt im fiinften Zeitraum unserer nachatlantischen Kulturent-
wickelung. Dieser fiinfte Zeitraum ist in gewisser Beziehung eine
Wiederholung des dritten Zeitraumes, des agyptisch-chaldaischen.
Der sechste Zeitraum wird in gleicher Weise eine Wiederholung des
urpersischen Zeitraumes sein und der siebente eine Wiederholung der
altindischen Zeit. So greifen die Zyklen ubereinander. Der vierte
Zeitraum wird keine Wiederholung haben; er steht in der Mitte,
steht sozusagen fur sich da. Was bedeutet das? Es heifit, dafi die Men-
schen dasjenige, was sie in der griechisch-lateinischen Zeit durch-
machten, nur einmal in einem Kulturzeitalter durchmachen; nicht
etwa, als ob sie nur einmal darinnen verkorpert waren, sondern sie
machen es nur in einer Form durch. Was dagegen im agyptisch-chal-
daischen Zeitalter durchgemacht wurde, das wird in unserer Zeit
wiederholt, es wird also in einer zweifachen Form durchgemacht.
Also Entwickelungsstufen gibt es, die eine Art Krisis bedeuten, wah-
rend andere Zeiten so sind, dafi sie sich in gewisser Beziehung ahn-
lich sehen, sich zwar nicht in derselben Weise, aber in anderer Form
doch wiederholen. Wie der Mensch sich in der nachatlantischen Zeit
entwickelt, macht er gleichsam eine Anzahl von Inkarnationen
durch in der indischen Zeit und eine andere Anzahl in der siebenten
Kulturepoche, die einander ahnlich sehen. Ebenso ist es mit der
zweiten und sechsten, und mit der dritten und funften Epoche. Da-
zwischen liegt die vierte Epoche, sie wird keine Wiederholung ha-
ben, sie steht in der Mitte. Was bedeutet das? Das bedeutet, dafi der
Mensch diese Periode nur einmal durchmachen mufi. Nicht, dafi er
sich nur einmal verkorpert im vierten Zeitraum, sondern dafi da
eine Anzahl von Inkarnationen liegen, die keinen anderen ahnlich
sehen. Ein Absteigen und ein Aufsteigen macht so der Mensch
durch. So machen auch die grofien Lehrer der Menschheit ihre Ent-
wickelung durch in einem Abstieg und in einem Aufstieg, und sie
sind zu den einen Zeiten etwas durchaus anderes als zu anderen
Zeiten.
Da nun die Menschen im ersten nachatlantischen Zeitraum ganz
andere Fahigkeiten hatten als spater, so mufiten sie auch in einer
ganz anderen Art unterrichtet werden. Wem ist es denn zu verdan-
ken, dafi in unserer Zeit in logisch konziser Weise die Weisheiten
auch in die Form des reinen Denkens zu kleiden sind? Das ist dem
Umstande zu verdanken, dafi in der heutigen Zeit innerhalb der Er-
denentwickelung als Durchschnittseigenschaft der Menschheit gera-
de die Bewufitseinsseele in der Fortentwickelung ist. Im griechisch-
lateinischen Zeitalter war es die Verstandes- oder Gemutsseele, im
agyptisch-chaldaischen Zeitraum die Empfindungsseele, in der ur-
persischen Kultur der Empfindungsleib und im alten Indertum der
Atherleib - wohlgemerkt als Kulturentwickelungsfaktor.
Was fur uns die Bewufitseinsseele ist, war fiir den Angehorigen des
Urindertums der Atherleib. Daher hatte er eine ganz andere Art auf-
zufassen und zu begreifen. Wenn Sie dem Inder mit reinem Denken
gekommen waren, hatte er nicht die Spur davon verstanden. Das wa-
ren fur ihn Laute gewesen, die keinen Sinn gehabt hatten. Den alten
Inder konnten die grofien Lehrer nicht dadurch unterrichten, dafi
sie ihm in der Form des reinen Denkens die Dinge iiberlieferten, sie
ihm mit dem Munde auseinandersetzten. Gesprochen wurde zum
Beispiel von einem grofien Lehrer im alten Indien aufierordentlich
wenig, denn auf der Stufe, auf der damals der Atherleib stand, hatte
man nicht die Empfanglichkeit fur das Wort, das den Gedanken um-
fafk. Es ist fur den heutigen Menschen so schwer, sich vorzustellen,
wie ein solcher Unterricht gewesen ist. Es wurde aufierordentlich
wenig gesprochen, und mehr an der Farbung des Lautes, mehr durch
die Art und Weise, wie ein Wort gesprochen wurde, erkannte die an-
dere Seele, was eigentlich da aus der geistigen Welt herausfliefk.
Aber das war nicht die Hauptsache. Das Wort war sozusagen nur
das «Anschlagen», das Zeichen, dafi eine Beziehung zwischen dem
Lehrer und dem anderen da sein soil. Es war das Wort in den altesten
indischen Zeiten nicht viel mehr, als wenn wir mit der Glocke anlau-
ten, um das Zeichen zu geben, dafi etwas anfangt. Es war der Kristal-
lisationspunkt, um den sich herumweben undefinierbare, feine
geistige Stromungen, die vom Lehrer zum Schiller gehen. Ganz be-
sonders aber kam es darauf an, was der Lehrer in seiner innersten
Personlichkeit war. Nicht darauf kam es an, was ein Lehrer sagte,
sondern auf seine Seelenqualitat; denn es ging wie eine Art von Ein-
gebung auf den Schiller uber. Weil man im besonderen den Ather-
leib ausgebildet hatte, mufke man sich auch in der entsprechenden
Art zu dem Atherleib verhalten, und man verstand das Ungespro-
chene, das was irgendein Lehrer war, viel besser als das Gesproche-
ne. Denn um das Gesprochene zu verstehen, mufken sich die Men-
schen erst durch die spateren Kulturepochen vorbereiten. Daher
ware es auch nicht notwendig gewesen, dafi irgendeiner der grofkn
Lehrer dieses alten Indiens eine besonders ausgebildete Verstandes-
oder Bewufkseinsseele gehabt hatte, denn das ware fur die damalige
Zeit ein ganz unbrauchbares Instrument gewesen.
Aber etwas anderes war fur diese grofien Lehrer notwendig: Es
mufke der Lehrer in der Entwickelung seines eigenen Atherleibes
liber dem anderen stehen. Ware er auf derselben Entwickelungsstufe
gestanden wie der andere, dann hatte er gar nicht auf ihn besonders
wirken konnen, hatte ihm keine Kundschaft und Botschaft aus einer
hoheren Welt bringen konnen, keinen Impuls des Fortschrittes ge-
ben konnen. Es mufke in gewisser Weise dasjenige dem Menschen
gebracht werden, worin er erst in der Zukunft hineinwachsen sollte.
Der indische Lehrer mulke gleichsam dasjenige vorausnehmen, was
die anderen erst in der persischen Kulturepoche in sich aufnehmen
konnten. Was die gewohnlichen Menschen in der persischen Epoche
aufnehmen sollten durch den Empfindungsleib, das mufite er herun-
terbringen in den Atherleib. Das heifit, der Atherleib eines solchen
Lehrers durfte gar nicht so wirken wie die Atherleiber der anderen
Menschen, er mufite wirken, wie der Empfindungsleib erst in der
persischen Kultur gewirkt hat. Wenn ein Hellseher im heutigen Sin-
ne vor einen grofien indischen Lehrer hingetreten ware, wiirde er ge-
sagt haben: Was ist denn das fur ein Atherleib? - Denn ein solcher
Atherleib hatte ausgesehen wie spater ein Astralleib in der persi-
schen Zeit.
Aber nicht ohne weiteres konnte ein solcher Atherleib so wirken
wie ein spaterer Astralleib. Das konnte nicht durch irgendeine vor-
ausschreitende Entwickelung in der damaligen Zeit geschehen. Das
war nur dadurch moglich, dafi tatsachlich eine Wesenheit, die schon
um eine Stufe hoher war als die anderen, herunterstieg und sich in
einen menschlichen Organismus verkorperte, der eigentlich nicht
fur sie pafite, nicht fur sie taugte, in den sie nur hineinzog, um von
den anderen verstanden zu werden. Sie sah aufierlich gewifi so aus
wie die anderen, aber innerlich war sie etwas ganz anderes. Es war
vollstandiges Blendwerk und Tauschung, wenn man bei einer sol-
chen Individuality nach dem aufieren Anschauen urteilte. Denn
wahrend bei einem gewohnlichen Menschen das AuBere dem Inne-
ren entspricht, widerspricht bei einem solchen Lehrer das Aufiere
dem Innern. So dafi hier die Tatsache vorliegt, dafi Sie das alte indi-
sche Volk haben und inmitten dieses altindischen Volkes eine Indivi-
dualist, die fur sich selber nicht notig gehabt hatte herunterzustei-
gen, die aber herunterstieg bis zu einer entsprechenden Stufe, um die
anderen lehren zu konnen. Sie stieg freiwillig herunter, verkorperte
sich in Menschengestalt, war aber etwas ganz anderes.
Dadurch war sie auch wieder eine solche Individuality, welche die
Schicksale, die der Mensch dadurch erlebt, dafi er ein normaler
Mensch ist, nichts angehen. Ein solcher Lehrer lebte in einem Leib
mit einem aufieren Schicksal und hatte keinen Anteil an diesem
Schicksal, er wohnte blofi in diesem Leibe drinnen wie in einem
Haus. Und wenn der Leib starb, war fur ihn der Tod ein ganz ande-
res Ereignis als fur die anderen Menschen; ebenso die Geburt und die
Erlebnisse zwischen Geburt und Tod. Daher arbeitete eine solche
Individualitat auch in ganz anderer Art in diesem menschlichen
Instrument.
Stellen wir uns nun vor, wie sich eine solche Individualitat zum
Beispiel des Gehirns bediente. Denn wenn auch damals mit dem
astralischen Leib wahrgenommen wurde, so wurde das Gehirn, das
zwar anders organisiert war, doch benutzt, um die Bilder, in denen
wahrgenommen wurde, wie mit einem Instrument zu bemerken. Es
gab also zweierlei Menschentypen: einen Typus, der sich seines Ge-
hirns bediente wie ein gewohnliches Menschenwesen, und einen Ty-
pus des Lehrers, der sich seines Gehirnes gar nicht in derselben Art
bediente, sondern der es in gewisser Beziehung unbenutzt liefi. Der
grofie Lehrer hatte nicht notig, alle Einzelheiten des Gehirnes zu be-
nutzen. Er wufke sozusagen Dinge, die der andere erst wissen konn-
te, indem er das Werkzeug des Gehirns anwendete. Was so einen
grofien Lehrer darstellte, war also keine wirkliche, richtige Inkarna-
tion auf der Erde, keine wirklich richtige Inkarnation eines Men-
schen, wie es sonst der Fall war, es war eigentlich etwas, was eine
Art Doppelnatur darstellte: eine Art geistigen Wesens war in dieser
Organisation drinnen. Solche Wesen gab es auch in der spateren per-
sischen Zeit, in der agyptischen Zeit und so weiter. Immer war es so,
dafi sie mit ihrer Individualitat gleichsam herausragten iiber das Maft
dieser menschlichen Organisation, nicht darinnen aufgingen. Da-
durch waren sie in der Lage, in jenen alter en Zeiten auf die anderen
Menschen zu wirken. Und das war der Fall bis zu jener Zeit, als im
griechisch-lateinischen Zeitalter eine wichtige Krisis in der Mensch-
heitsentwickelung eingetreten ist.
In der griechisch-lateinischen Zeit war es besonders die Verstan-
des- oder Gemiitsseele, die nun nach und nach anfing, die inneren
Fahigkeiten herauszutreiben. Wahrend in der vorhergehenden Zeit
die Hauptsache sozusagen von aufien einflofi in den Menschen -
wie Sie das an dem Beispiel der Furien sehen konnen, wo der
Mensch die rachenden Gestalten urn sich, nicht in sich hatte - , so
tritt in der griechisch-lateinischen Zeit das ein, dafi gleichsam von
innen heraus etwas entgegenstromt den groften Lehrern. Dadurch
waren jetzt ganz neue Verhaltnisse eingetreten.
Friiher waren also Wesen von den hoheren Welten heruntergestie-
gen, hatten eine solche Lage vorgefunden, dafi sie sich sagen konn-
ten: Wir haben nicht notig, ganz hineinzugehen in die menschliche
Organisation, denn wir konnen so wirken wie wir sollen, wenn wir
aus hoheren Welten heruntertragen in die Menschen, was sie noch
nicht konnen, und es eben in sie einfliefien lassen. - Da brachten die
Menschen den Lehrern noch nichts entgegen. Wenn aber die grofien
Lehrer diese Politik weiter getrieben hatten, dann hatte es vom vier-
ten Zeitraum ab geschehen konnen, daft eine solche Individuality
heruntergestiegen ware, in irgendeiner Gegend aufgetreten ware,
aber jetzt auf der Erde etwas gefunden hatte, was es da oben gar
nicht gibt. Solange man auf der Erde die Racherinnen, die Erinnyen
gesehen hatte, konnte man absehen von dem, was es auf der Erde
gab. Aber nun trat unten etwas ganz Neues auf: das Gewissen. Das
kannte man oben nicht, dafiir gab es keine Moglichkeit, es oben zu
beobachten. Das war etwas Neues, was denen, die da oben waren,
entgegenkam.
Es trat also im vierten Zeitraum der nachatlantischen Kultur, mit
anderen Worten, die Notwendigkeit ein, dafi tatsachlich diese Leh-
rer bis in die Menschheitsstufe herunterstiegen und innerhalb der
Menschheitsstufe selber kennenlernten, was aus der Menschenseele
selbst nach oben der geistigen Welt entgegenschlagt. Jetzt fing also
die Zeit an, wo es nicht mehr ging, keinen Anteil zu haben an den
menschlichen Fahigkeiten. Und jetzt betrachten wir jenes eigenar-
tige Wesen, von dem wir in seiner irdischen Inkarnation als dem
Gautama Buddha sprechen.
Gautama Buddha war vorher ein Wesen, welches so leben konnte,
dafi es sich immer in irdische Leiber der entsprechenden Kulturpe-
rioden verkorpern konnte, ohne Anspruch zu machen, alles in die-
ser menschlichen Organisation zu benutzen. Dieses Wesen hatte es
nicht notig, wirkliche menschliche Inkarnationen durchzumachen.
Jetzt tritt aber fur den Bodhisattva ein wichtiger Wendepunkt ein,
namlich die Notwendigkeit, kennenzulernen alle Schicksale der
menschlichen Organisation in einem irdischen Leib, in den er ganz
einkehren mufite. Da gab es fur ihn etwas zu erfahren, was man nur
in einem irdischen Leib erfahren konnte. Und weil er eine hdhere
Individuality war, so geniigte diese eine Verkorperung, um das
wirklich zu sehen, was alles aus diesem menschlichen Leib sich her-
ausentwickeln kann. Fur die anderen Menschen lag die Sache so, dafi
sie jetzt die inneren Fahigkeiten durch den vierten, funften, sechsten
und siebenten Zeitraum der nachatlantischen Kulturentwickelung
nach und nach zu entfalten haben. Buddha dagegen konnte in dieser
einmaligen Inkarnation alles erleben, was als Entwickelungsmog-
lichkeit darinnen war. Was die Menschen als «Gewissen» hervor-
treiben werden, und was immer grofier und grower werden wird, das
sah er gleichsam voraus in seinem ersten Keim, als er seine Inkarna-
tion als Gautama Buddha durchlebte. Daher konnte er gleich wieder
nach dieser Inkarnation hinaufsteigen in die gottlich-geistigen Wel-
ten und brauchte nicht spater noch eine zweite Inkarnation durch-
zumachen. Was die Menschen auf einem gewissen Gebiete in den
zukiinftigen Zyklen aus sich herausentwickeln werden, das konnte
er in dieser einen Inkarnation wie eine grofie Richtkraft angeben.
Das geschah durch das Ereignis, das uns angedeutet wird in dem
«Sitzen unter dem Bodhibaum». Damals ging ihm auf - nach seiner
besonderen Mission - die Lehre vom Mitleid und von der Liebe,
die im «achtgliedrigen Pfad» enthalten ist. Diese grofie Menschheits-
ethik, welche sich die Menschen als ihr Eigentum durch die folgen-
den Kulturen erobern werden, ist wie eine Grundkraft hineingelegt
gewesen in das Gemiit des Buddha, der damals herunterstieg und
vom Bodhisattva zum Buddha wurde, das heifit, eine wirkliche
hohere Stufe durchmachte. Denn hier hat er gelernt im Herunter-
steigen.
Das ist, ein wenig umschrieben, jenes grofie Ereignis, das in der
morgenlandischen Kultur bezeichnet wird als «das Buddha-Werden
des Bodhisattva». Als dieser Bodhisattva, der sich fruher niemals
wirklich inkarniert hatte, neunundzwanzig Jahre alt war, da zuckte
hinein in den Sohn des Suddhodana, da ergriff ihn vollstandig die In-
dividualitat des Bodhisattva, die vorher noch nicht vollstandig davon
Besitz ergriffen hatte, und er erlebte die grofie Menschheitslehre
vom Mitleid und von der Liebe.
Warum hat sich dieser Bodhisattva, der dann der Buddha wurde,
gerade in diesem Volke inkarniert? Warum nicht zum Beispiel inner-
halb des griechisch-lateinischen Volkes?
Wenn dieser Bodhisattva wirklich der Buddha der vierten nach-
atlantischen Kulturperiode werden sollte, dann mufite er etwas Zu-
kunftiges bringen. Jetzt wird der Mensch durch seine Bewufkseins-
seele, wenn sie sich entwickeln wird, reif werden, nach und nach aus
sich selbst das zu erkennen, was der Buddha als einen grofien An-
schlag gegeben hat. Es mufite der Buddha in der Zeit, wo die Men-
schen nur erst die Verstandes- oder Gemiitsseele entwickelt hatten,
schon die Bewufitseinsseele entwickelt haben. Er mufite also das
physische Instrument des Gehirns so benutzen, dafi er es uberwaltig-
te, in ganz anderer Weise es iiberwaltigte als ein bis zur griechisch-
lateinischen Kulturperiode vorgeschrittener Mensch. Das griechisch-
lateinische Gehirn ware fur ihn zu hart gewesen. Er hatte darinnen
nur die Verstandesseele ausbilden konnen; er mufite aber die Be-
wufitseinsseele ausbilden. Daher brauchte er ein Gehirn, das weicher
geblieben war. Er gebrauchte die Seele, die sich spater entwickeln
sollte, in einem Instrument, das vorher Usus war bei der Menschheit
und das sich erhalten hatte bei dem indischen Volke.
Da haben Sie auch eine Wiederholung: Der Buddha wiederholt
eine Menschheitsorganisation von vorher mit einer Seelenfahigkeit
von nachher. Bis zu diesem Grade sind die Dinge, die in der Mensch-
heitsentwickelung vorgehen, notwendig. Und der Buddha hatte die
Aufgabe, im 5. bis 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung die Be-
wufitseinsseele hineinzutauchen in die menschliche Organisation. Er
konnte aber als Einzelindividualitat nicht die voile Aufgabe iiber-
nehmen, er konnte nicht alles tun, damit diese Bewufitseinsseele sich
vom funften Zeitraum ab richtig ausbildet. Er hatte nur einen Teil
dieser Aufgabe als seine besondere Mission, namlich die Aufgabe,
der Menschheit die Lehre vom Mitleid und von der Liebe zu brin-
gen. Andere Aufgaben oblagen anderen, ahnlichen Lehrern der
Menschheit. Die in diesem Teil beschlossene Menschheitsethik, die
Ethik der Liebe und des Mitleids, wurde angeschlagen von dem
Buddha, und sie vibriert weiter fort. Die Menschheit aber mufi
aufierdem fur die Zukunft eine ganze Summe anderer Fahigkeiten
entwickeln, zum Beispiel in reinen Formen des Denkens zu denken,
in auskristallisierten Gedanken Gedankenplastik zu treiben, einen
Gedanken als reinen Gedanken zu dem andern zu setzen. Diese
Fahigkeit lag nicht in der Buddha-Mission. Er sollte herausbilden,
was den Menschen dazu fuhrt, von selber den achtgliedrigen Pfad
zu finden.
So mufite ein anderer Lehrer der Menschheit da sein, der ganz an-
dere Fahigkeiten hatte und ganz andere Strome geistigen Lebens her-
untertrug aus den hoheren, geistigen Welten in diese Welt hinein.
Diese andere Individuality hatte die Aufgabe, dasjenige herunterzu-
tragen, was sich heute nach und nach in der Menschheit vorzugswei-
se zeigt als die Fahigkeit des logischen Denkens. Es mufke auch ein
Lehrer sich finden, der das herabtrug, was dazu gehort, sich in den
Formen des logischen Denkens auszusprechen; denn das logische
Denken hat sich auch erst im Laufe der Zeit entwickelt.
Was der Buddha geleistet hat, mufite in die Verstandes- oder Ge-
rmitsseele hineingetragen werden. Diese Verstandesseele hat da-
durch, dafi sie in der Mitte zwischen Empfindungsseele und Be-
wufitseinsseele drinnensteht, die ganz besondere Eigentumlichkeit,
dafi sich die Dinge nicht iiber Kreuz wiederholen. Wie sich der urin-
dische Zeitraum im siebenten, der urpersische im sechsten Zeitraum
wiederholen wird, und wie der vierte fur sich allein dasteht, so steht
auch die Verstandesseele fur sich allein da. Die Krafte fur unsere in-
tellektuellen Fahigkeiten, die erst in der Bewulkseinsseele entstehen
mufiten, konnten nicht in der Verstandesseele entwickelt werden,
sie mufken aber gerade, obwohl sie erst spater auftreten sollten, be-
reits friiher veranlagt und angeregt werden. Mit anderen Worten: Es
mufite der Impuls fur das logische Denken friiher gegeben werden,
als der Impuls fur das Gewissen durch Buddha gegeben wurde. Das
Gewissen sollte hineinorganisiert werden in den vierten Zeitraum;
das bewufite reine Denken sollte im fiinften Zeitraum in der Be-
wufitseinsseele herauskommen, mufke aber schon veranlagt sein als
Keim zu dem, was heute aufgeht, in der dritten Kulturperiode. Da-
her hatte jener andere grofie Lehrer die Aufgabe, der Empfindungs-
seele jene Krafte einzuimpfen, welche heute als logisches Denken
zum Vorschein kommen. Deshalb ist es leicht zu denken, dafi der
Abstand dieses Lehrers von dem Normalmenschen ein noch grofie-
rer sein mufite als der des Buddha von dem gewohnlichen Men-
schen. Es sollte in der Empfindungsseele etwas angeregt werden, was
im Grunde gar nicht in irgendeinem Menschen damals vorhanden
war. Mit Begriffen, mit dem, was entwickelt werden sollte, konnte
man gar nichts anfangen. Es hatte also jene Individuality die Aufga-
be, den Keim zu legen zu gewissen Kraften, aber sie durfte oder
konnte nicht diese Krafte selber verwenden. Das ging nicht. Sie
mufite daher ganz andere Krafte verwenden.
Nun habe ich heute morgen in dem zweiten Vortrag iiber «An-
throposophie» auseinandergesetzt, wie allerdings zum Beispiel im
Sehen in der Empfindungsseele Krafte wirken, die eigentlich auf
einer hoheren Stufe erst bewufit werden und dabei als denkerische
zum Vorschein kommen. Wenn es also einer solchen grofien Lehrer-
individualitat gelingen konnte, diese Empfindungsseele so anzure-
gen, dafi die Krafte des Denkens in sie ungefahr ebenso hineindran-
gen wie denkerisches Leben auf unterbewufke Art im Sehakt, ohne
dafi sich der Mensch Rechenschaft dariiber gibt, dann konnte diese
Individuality erreichen, dafi die Krafte spater auf hoherer Stufe
benutzt werden konnten. Das war nur durch eines moglich. Um die
Empfindungsseele anzuregen, ihr sozusagen das Denkerische einzu-
impfen, mufite wirklich diese Individuality damals auf eine ganz be-
sondere Weise wirken: Sie mufite unterrichten nicht in Begriffen,
sondern durch Musik! Die Musik gibt Krafte her, welche in der
Empfindungsseele dasjenige auslosen, was, wenn es ins Bewufitsein
hinaufsteigt und von der Bewufitseinsseele verarbeitet wird, zum lo-
gischen Denken wird. Diese besondere Musik wirkte von einem
Wesen aus, von einem gewaltigen Wesen, das so - durch Musik -
unterrichtete.
Sie werden das sonderbar finden und vielleicht glauben, so etwas
ware nicht moglich. Es war aber doch so. Gerade in den Gegenden
Europas war vor der griechisch-lateinischen Zeit eine uralte Kultur
bei Volkern vorhanden, die in bezug auf solche Eigenschaften, die
im Osten stark ausgebildet waren, zuriickgeblieben waren. In diesen
europaischen Gegenden konnten die Menschen, weil sie sich ganz
anders entwickeln sollten, wenig denken, sie hatten wenig von dem,
was Krafte der Verstandes- oder Gemutsseele sind. Aber ihre Emp-
findungsseele war gerade empfanglich fur das, was aus den Impulsen
einer besonderen Musik, die unserer heutigen nicht ganz ahnlich
war, hervorging. Da kommen wir in Europa auf eine Zeit zuriick,
wo eine uralte, wir konnen sie nennen «musikalische Kultur» vor-
handen war, wo nicht nur die «Barden» die Lehrer waren wie in Zei-
ten, in denen diese Sache schon in Dekadenz war, sondern wo eine
bezaubernde Musik durch die ganzen europaischen Gegenden ging.
Es gab wahrend der dritten Kulturperiode eine tief musikalische
Kultur in Europa, und das Gemiit jener Volker, die in der Stille ab-
warteten, wozu sie in spateren Zeiten bestimmt waren, war in einer
besonderen Art empfanglich fur musikalische Wirkungen. Das wa-
ren Wirkungen auf die Empfindungsseele in ahnlicher Art, wie fur
das Auge die denkerische Substanz auch wieder in der Empfindungs-
seele wirkt. Die Empfindungsseele wurde bearbeitet, in ihr sollte Be-
wufitsein entstehen, das auf hoherer Stufe in der Bewufitseinsseele
sich als logisches Denken offenbarte. Nun kommt aber alles Be-
wufitsein aus den Regionen des Lichtes, ebenso Musik und Gesang.
Darum hatte durch die Musik, die auf dem physischen Plan wirkte,
die Empfindungsseele das unterbewufite Empfinden: Das kommt
aus Regionen, wo das Licht herkommt, Musik, Gesang aus den Rei-
chen des Lichtes!
Es war ein uralter Lehrer innerhalb der europaischen Kulturgegen-
den - ein uralter Lehrer, der in diesem Sinne uralter Barde war, der
Anfuhrer aller alten Bardenschaft. Er lehrte auf dem physischen
Plan durch Musik, und er lehrte so, dafi durch seine Wirkungen sich
der Empfindungsseele etwas mitteilte, wie wenn eine Sonne aufging
und leuchtete. Was sich iiber diesen grofien Lehrer in der aufieren
Tradition erhalten hat, das haben spater die Griechen, die noch vom
Westen her von ihm beeinflufit waren, wie sie in anderer Weise vom
Osten beeinflufit waren, zusammengefafk in ihren Anschauungen
iiber den Apollo, der ein Sonnengott ist und zu gleicher Zeit der
Gott der Musik. Diese Gestalt des Apollo fiihrt aber zuriick auf die-
sen grofien Lehrer der Vorzeit, der in die menschliche Seele die Fa-
higkeit gelegt hat, welche heute als logisches Denken hervortritt.
Und ein Schuler dieses grofien Lehrers der Menschheit ist ebenfalls
von den Griechen genannt; ein Schuler, der allerdings auf eine ganz
eigentiimliche Weise Schuler wurde. Wie konnte jemand Schuler
dieser Wesenheit werden? - Auf folgende Art.
Diese Wesenheit war naturlich in jenen Zeiten, in denen sie auf die
geschilderte Art wirken sollte, auch so, dafi sie nicht aufging in der
physischen Organisation des Menschen, dafi sie mehr war als das,
was als physischer Mensch auf der Erde herumging. Ein Mensch mit
einer gewohnlichen Empfindungsseele hatte die musikalischen Wir-
kungen aufnehmen konnen, sie aber nicht erregen konnen. Eine ho-
here Individuality war heruntergestiegen und wie der Schein war
das, was da aufien lebte.
Aber in der vierten nachatlantischen Kulturperiode, im griechisch-
lateinischen Zeitalter war es notwendig, daft diese Individuality nun
wieder herunterstieg, sozusagen bis zur Menschlichkeitsstufe, und
alle die Fahigkeiten, die im Menschen sind, benutzte. Aber obwohl
sie sozusagen alle Fahigkeiten benutzte, konnte sie doch nicht ganz
heruntersteigen. Denn um das zu bewirken, was ich eben geschildert
habe, um diese Wirkung iiber Kreuz zusammenzubringen, brauchte
sie Fahigkeiten, die hinausgingen iiber das Mafi dessen, was eine
menschliche Organisation im vierten nachatlantischen Zeitraum
hatte. In den musikalischen Wirkungen lag ja schon alles drinnen,
was in der Bewufkseinsseele ist. Das konnte aber in jener Zeit noch
nicht vorhanden sein in einer Individuality, die erst fur die Gemiits-
seele in Betracht kam. Daher mulke diese Individuality, nachdem
sie in jener Gestalt verkorpert war, trotzdem wieder etwas zuriick-
behalten. Sie mufite sich im vierten Zeitraum so verkorpern, daft sie
zwar den ganzen Menschen ausfiillte, aber der Mensch, der da lebte,
hatte gleichsam aber doch etwas in sich, das iiber ihn hinausreichte.
Er wulke etwas von einer geistigen Welt, das er nicht verwenden
konnte. Er hatte eine Seele, die iiber diesen Leib hinausragte.
Es war, wenn wir es menschlich betrachten wiirden, etwas Tragi-
sches, dafi sich die Individualist, die als grofier Lehrer in der dritten
Kulturperiode gewirkt hatte, wiederverkorpern sollte in einer sol-
chen Gestalt, die in ihrer Seele iiber sich selbst hinausragte und doch
keine Verwendung hatte fur eine iiber das gewohnliche Maft hinaus-
gehende Seelenfahigkeit. Man nennt deshalb diese Art der Verkorpe-
rung, weil das, was friiher da war, sich nicht unmittelbar, sondern in
einer sehr komplizierten Art verkdrperte, einen «Sohn des Apollo» -
einen Sohn, der das als Seele in sich trug, was man in der Mystik ge-
wohnlich mit dem Symbol eines Weiblichen bezeichnet. Aber es
war so in ihm vorhanden, daft er es nicht ganz haben konnte, da es in
einer anderen Welt war. Das eigene Seelisch-Weibliche trug er in
sich in einer andern Welt, zu der er nicht den Zugang hatte, in die er
sich aber hineinsehnte, weil ein Teil seines eigenen Selbstes darinnen
war. Diese wunderbare innere Tragik der wiederverkorperten gro-
fien Lehrerindividualitat von friiher hat der griechische Mythos in
einer wunderbaren Art festgehalten bei dem Namen, den er dem
wiederverkorperten Apollo oder dem «Sohn des Apollo» gegeben
hat: in Orpheus.
In dem Mythos von Orpheus und Eurydike wird diese Tragik der
Seele in einer wunderbaren Weise dargestellt. Eurydike wird dem
Orpheus fruh entrissen. Sie ist in einer anderen Welt. Orpheus steigt
ins Reich der Schatten hinunter. Er hat noch die Fahigkeit, die We-
senheiten in der Unterwelt durch seine Musik zu riihren. Er erhalt
die Erlaubnis, Eurydike wieder mitzunehmen. Aber er darf sich
nicht umschauen, denn es ist der Anblick fiir ihn innerlich ertotend,
oder wenigstens verlustbringend, wenn er auf das zuriickschaut, was
er vorher gewesen ist, und was er jetzt nicht in sich aufnehmen
kann.
So haben wir in dem Orpheus- Werden des Apollo wiederum eine
Art Herabsteigen eines Bodhisattva, wenn wir einen orientalischen
Namen anwenden wollen, der zu einem Buddha wird. Und so konn-
ten wir eine Reihe von solchen Wesenheiten anfiihren, welche von
Zeitalter zu Zeitalter als die grofien Lehrer der Menschheit dastehen,
und welche innerhalb ihres tiefsten Herabstieges, wenn sie zu einem
Buddha werden, etwas ganz besonderes erleben. Der Buddha erlebt
die Seligkeit, die ganze Menschheit zu inspirieren. Jener Bodhisattva,
der aufierlich unter dem Namen «Apollo» erhalten ist, erlebt etwas
Individuelles; er sollte ja gerade die Individuality, die Ich-Eigen-
schaft vorbereiten. Er erlebt die Tragik des Ich, er erlebt, daft dieses
Ich nicht ganz bei sich selber ist, wie die Menschen in bezug auf diese
Menschheitseigenschaft heute eben sind. Der Mensch strebt hinauf
zu dem hoheren Ich. Das ist vorgebildet in dem, was fur Griechen-
land der Buddha oder Bodhisattva in entsprechender Weise in
Orpheus ist.
Da sind wir aus Einzelheiten heraus zu einer Charakteristik jener
grofien Lehrer der Menschheit gekommen und konnen uns jetzt et-
was vorstellen bei solchen Begriffen. Wenn Sie nun das zusammen-
fassen, was ich jetzt gesagt habe, so werden Sie sehen, dafi ich immer
von solchen Wesenheiten gesprochen habe, welche ausgebildet ha-
ben zum Beispiel die Empfindungsseele, die Verstandes- oder Ge-
imitsseele und die Bewufitseinsseele in einer bestimmten Weise als
innerliche Fahigkeiten - als Fahigkeiten, die von innen in den Men-
schen einziehen miissen. Wir konnen, weil wir nur diesen Zeitraum
iiberblicken, zunachst nur diese zwei vor uns haben: die Ausbilder
der Empfindungsseele. Aber es gibt viele solcher Wesenheiten, weil
sich die Inner lichkeit des Menschen nach und nach, Stufe fur Stufe,
entwickelt.
Vergleichen wir jetzt mit dem, was sozusagen das Innerliche des
Menschen ergreift, eine andere Wesenheit, und zwar aus dem Grun-
de, weil wir uns doch sagen miissen: Wenn immer Lehrer kommen,
welche die steigernd sich fortentwickelnden inneren Fahigkeiten mit
geistiger Nahrung aus den oberen Regionen versehen, so miissen an-
dere Individualitaten da sein, die eine andere Arbeit verrichten, die
vor allem Hand anlegen an die Veranderung der Erde selber und an
dem, was sich da von Zeitalter zu Zeitalter fortentwickelt. Wenn der
Buddha in der vierten Kulturepoche sozusagen die Verstandesseele
durch die Bewufkseinsseele von innen ergriff, so mufke diese Ver-
standesseele auf der anderen Seite auch von aufien ergriffen werden.
Es mufke von auften etwas an sie herankommen. Diese Wesenheit
mufke nun von einer anderen Seite herkommen und in einer ganz
anderen Weise wirken.
Ein solcher Lehrer, wie wir ihn eben charakterisiert haben, mufi-
te, indem er sich hinstellte vor den Menschen, hineingiefien in das
menschliche Innere, was er zu bringen hatte aus hoheren Regionen.
Lehrer war er. Was mufke die andere Wesenheit tun, welche sozusa-
gen die Erde weiterbrachte, dafi sie sich von Geschlecht zu Ge-
schlecht entwickelte? Sie mufke nicht blofi ein Inneres ergreifen,
nicht blofi an den Menschen herangehen, um in ihm diese oder jene
Fahigkeiten zu entwickeln, sondern sie mufke selber als solche We-
senheit, als Wesenheit auf die Erde heruntersteigen. Da mufke nicht
nur ein Lehrer fur die Verstandesseele, sondern ein Former fur die
Verstandesseele heruntersteigen. Einer, der sie selber bildete, mufke
auftreten, der sozusagen der unmittelbare Ausdruck dieser Seele des
vierten Zeitraumes war, dieses ausgezeichneten Zeitraumes, der in
der Mitte dasteht. Diese Wesenheit mufke von einer ganz anderen
Seite kommen. Sie mufke in die menschliche Natur selber einzie-
hen, sich da selber verkorpern. Schufen die Bodhisattvas das
menschliche Innere um, dieser schuf die ganze menschliche Natur
um. Er machte erst moglich, dafi die Lehrer einen geeigneten Boden
fanden in der Zukunft. Er gestaltete die ganze menschliche Wesen-
heit um.
Erinnern wir uns daran, wie sich bei der menschlichen Wesenheit
die verschiedenen Seelen hineinbauen in die einzelnen Leiber: die
Empfindungsseele in den Empfindungsleib, die Verstandes- oder Ge-
mutsseele in den Atherleib und die Bewufkseinsseele in den physi-
schen Leib. Wo die Bewufkseinsseele sich in den physischen Leib
hineinbaut, da ist die Wirkung der Bodhisattvas, da ergriffen sie den
Menschen von der einen Seite. Da, wo die Verstandesseele oder Ge-
mutsseele wirkt bis zum Atherleib, da ergriff eine andere Wesenheit
den Menschen im vierten Zeitraum von der anderen Seite. Wann tat
sie das?
Das geschah in der Zeit, als ein Atherleib des Menschen unmittel-
bar zu ergreifen war, als jene Wesenheit, die wir als Jesus von Naza-
reth genauer geschildert haben, den physischen Leib im Moment der
Johannestaufe verliefi. Als dieser ganze Leib untergetaucht wurde -
wobei sonst dasjenige eintrat, was wir als einen «Schock» beschrie-
ben haben - , da senkte sich in den Atherleib dieser Individualitat
hinein die Christus- Wesenheit. Das ist jene Individualitat, welche
von der anderen Seite kommt, die nun aber auch ganz anderer Natur
ist. Wahrend wir es bei den anderen grolfen Fuhrerindividualitaten
in gewisser Beziehung mit hoher entwickelten Menschen zu tun ha-
ben, mit solchen Menschen, die wenigstens einmal alle Menschheits-
schicksale durchgemacht haben, konnen wir das von der Christus-
Individualitat nicht sagen. Was ist das Unterste bei dieser Christus-
Wesenheit? Von unten herauf ist es der Atherleib. Das heifit, wenn
einmal der Mensch durch das Geistselbst seinen ganzen astralischen
Leib umgearbeitet haben wird und hineinwirken wird in den Ather-
leib, dann wird er in diesem Atherleibe in einem Element arbeiten,
in dem der Christus schon dazumal auf dieselbe Weise gearbeitet
hat. Der Christus gibt einen Impuls machtigster Art, der bis in die
Zukunft hineinwirkt, an den der Mensch erst kommt, wenn er an
die Bearbeitung seines Atherleibes in bewufker Weise herantritt.
Wenn der Mensch sein Leben durchwandelt, geht er von der Ge-
burt oder auch von der Empfangnis zum Tode, dann vom Tode zu
einer neuen Geburt. Auf dem Wege zur neuen Geburt macht er
nach dem Tode zunachst die astralische Welt durch, dann das, was
wir den unteren Teil der devachanischen Welt nennen und dariach
den oberen Teil der devachanischen Welt. Wenn wir europaische
Ausdriicke gebrauchen, nennen wir den physischen Plan die kleine
Welt oder die Welt des Verstandes, das Astralische die Welt des Ele-
mentarischen, das untere Devachan die himmlische Welt und das
obere Devachan die Vernunftwelt. Und weil der europaische Geist
sich erst nach und nach heraufarbeitet, um in seiner Sprache die ent-
sprechenden wirklichen Ausdriicke zu haben, so hat dasjenige, was
uber der devachanischen Welt liegt, einen religios gefarbten Aus-
druck bekommen und heifit so die «Welt der Vorsehung», das ist
dasselbe wie der Buddhiplan. Was dariiber ist, das konnte das alte
Hellsehen zwar iiberblicken und alte Uberlieferungen konnten es
der Menschheit geben, aus den europaischen Sprachen heraus konn-
te ihm aber kein Name gegeben werden, weil heute erst der Seher
sich wieder dazu heraufarbeitet. So dafi iiber der Welt der Vorse-
hung eine Welt liegt, fiir die es in ganz ehrlicher und richtiger Weise
den Namen in den europaischen Sprachen noch nicht geben darf. Sie
ist wirklich da, nur ist das Denken noch nicht so weit, um sie cha-
rakterisieren zu konnen; denn es kann auch nicht ein beliebiger
Name gefunden werden fiir das, was sonst im Orientalischen «Nir-
wana» genannt wird und was iiber der «Welt der Vorsehung» liegt.
Der Mensch, sagte ich, geht hinauf zwischen dem Tode und einer
neuen Geburt bis zu dem oberen Devachan oder der Vernunftwelt.
Dort sieht er hinein in hohere Welten, in denen er nicht selber drin-
nen ist, und sieht jene iiber ihm stehenden Wesenheiten in diesen ho-
heren Welten wirken. Wahrend der Mensch sein Leben zubringt in
Welten vom physischen Plan bis zum Devachanplan, ist es das Nor-
male einer Bodhisattva-Wesenheit, dafi sie bis in den Buddhiplan
hinaufgeht, was wir in Europa die Welt der Vorsehung nennen. Das
ist ein gutes Wort, denn es ist ihre Aufgabe, die Welt von Zeitalter
zu Zeitalter mit Vorsehung zu lenken. Was tritt nun ein, wenn der
Bodhisattva durch die Verkorperung - wie bei Gautama Buddha -
durchgegangen ist?
Wenn er eine gewisse Stufe erreicht hat, gelangt er hinauf zum
nachsten Plan, zum Nirwanaplan. Da hat er seine nachste Sphare.
Damit haben wir charakterisiert die Bodhisattvas, die dann die
Buddhas werden, um in den Nirwanaplan hineinzugehen. Alles was
am menschlichen Innern so arbeitet, in das Innere hinein, das lebt in
einer Sphare, die hinaufreicht bis zum Nirwanaplan. Von der ande-
ren Seite her wirkt in die menschliche Natur hinein eine Wesenheit
wie der Christus. Von der anderen Seite her wirkt er auch in jene
Welten hinein, in welche die Bodhisattvas hinaufsteigen, wenn sie
die Region der Menschheit verlassen, um selber zu lernen, damit sie
dann Lehrer werden konnen in der Menschheit. Da tritt ihnen von
oben, von der anderen Seite her, eine solche Wesenheit entgegen wie
der Christus. Dann sind sie die Schiiler des Christus. Zwolf Bodhi-
sattvas umgeben eine solche Wesenheit, wie es der Christus ist, und
wir konnen iiberhaupt nicht von mehr als zwolf reden, denn wenn
die zwolf Bodhisattvas ihre Mission erreicht haben, haben wir die
Zeit des Erdenseins erschopft.
Der Christus war ein einziges Mai physisch da und hat damit dasje-
nige durchgemacht, was Abstieg, Ankunft auf der Erde und Aufstieg
ist. Er kommt von der anderen Seite und ist diejenige Wesenheit, die
in der Mitte der zwolf Bodhisattvas ist, die sich dort dasjenige holen-,
was sie auf die Erde herunterzutragen haben. So steigen die Bodhi-
sattva-Wesenheiten zwischen zwei Inkarnationen hinauf bis zum
Buddhiplan, und bis zum Buddhiplan reicht dasjenige, was ihnen
vollbewufit als Lehrer entgegentritt: die Wesenheit des Christus.
Auf dem Buddhiplan begegnen sich die Bodhisattvas und der Chri-
stus. Und wenn die Menschen weiterschreiten und diejenigen Eigen-
schaften entwickeln, die ihnen durch die Bodhisattvas eingetraufelt
werden, dann werden sie auch immer reifer werden, um in dieselbe
Sphare hinaufzudringen. Einstweilen aber handelt es sich darum,
dafi die Menschheit erkennen lernt, dafi in dem Jesus von Nazareth
inkarniert war, das heifit in menschlicher Gestalt erschienen war die
Christus- Wesenheit, und dafi durch diese menschliche Gestalt erst
durchzudringen ist, um zu der wahren Wesenheit der Christus-Indi-
vidualitat zu gelangen.
So gehoren zu dem Christus zwolf Bodhisattvas, die vorzubereiten
und weiter auszubauen haben, was er als den grofiten Impuls unserer
Kulturentwickelung gebracht hat. Da erblicken wir die Zwolf und
in ihrer Mitte den Dreizehnten. Damit sind wir aufgestiegen in die
Sphare der Bodhisattvas und eingetreten in einen Kreis von zwolf
Sternen, und in ihrer Mitte die Sonne, die sie erleuchtet und er-
warmt, von der sie jenen Lebensquell haben, den sie dann wieder
herunterzutragen haben auf die Erde. Wie nimmt sich auf der Erde
das Abbild von dem aus, was da oben geschieht?
Auf die Erde herunterprojiziert nimmt es sich so aus, dafi wir sa-
gen konnen: Der Christus, der auf der Erde gelebt hat, hat dieser Er-
denentwickelung einen solchen Impuls gebracht, dafi die Bodhisatt-
vas vorzubereiten hatten die Menschheit fur diesen Impuls und auch
wieder auszubauen haben, was der Christus der Erdenentwickelung
gibt. Das nimmt sich wie ein Bild auf der Erde aus: Der Christus in
der Mitte der Erdenentwickelung, die Bodhisattvas als seine Vorbo-
ten und seine Nachfolger, die seine Arbeit der Menschheit wiederum
nahezubringen haben.
So mufite eine Anzahl von Bodhisattvas in der Menschheit vorar-
beiten, damit die Menschheit reif wurde, den Christus zu empfan-
gen. Nun ist aber die Menschheit, nachdem sie reif war, den Chri-
stus unter sich zu haben, noch lange nicht reif, alles dasjenige zu er-
kennen, zu fuhlen und zu wollen, was der Christus ist. Und ebenso
viele Bodhisattvas als notwendig waren, um die Menschen fur den
Christus vorzubereiten, ebenso viele sind notwendig, um das, was
durch den Christus in die Menschheit einfliefien soil, in die Mensch-
heit hinauszufuhren. Denn in dem Christus ist so viel, dafi die Krafte
und Fahigkeiten der Menschen immer grofiere werden mussen, um
ihn ganz zu verstehen. Mit den heutigen Fahigkeiten ist er nur
zum kleinsten Teil zu verstehen. Hohere Fahigkeiten werden der
Menschheit erstehen, und mit jeder neuen Fahigkeit werden wir den
Christus in einem neuen Lichte ansehen. Und erst wenn der letzte
zum Christus gehorige Bodhisattva seine Arbeit getan haben wird,
wird die Menschheit empfinden, was der Christus ist; dann wird sie
von einem Willen beseelt sein, in dem der Christus selber lebt. Der
Christus wird durch das Denken, Fuhlen und Wollen in die mensch-
lichen Wesen einziehen, und die Menschheit wird die aufiere Aus-
pragung des Christus auf der Erde sein.
ZWEITER VORTRAG
Berlin, 22. Dezember 1909
Die heutige Betrachtung moge gewidmet sein Dingen, welche den
Anthroposophen im weiteren Sinne des Wortes interessieren kon-
nen und die dazu bestimmt sein sollen, denen, welche schon langere
Zeit an diesen Zweigabenden teilgenommen haben, diese oder jene
Sache genauer zu beleuchten. Vor allem ist es gut, wenn wir uns ab
und zu wieder in die Erinnerung rufen, daft es in der Geisteswissen-
schaft nicht allein darauf ankommt, dieses oder jenes so im allgemei-
nen als Theorie, als Lehre zu wissen, sondern dafi es darauf an-
kommt, immer wieder und wieder sich genauer und eingehender mit
den entsprechenden Fragen und Lebensratseln zu beschaftigen. Es
konnte ja vielleicht jemand sagen: Was man zunachst fiir das Leben
aus der Geistesforschung zu wissen braucht, das liefie sich bequem in
ein kleines Heftchen von vielleicht sechzig Seiten, wenn man alles
unterbringen will, hineinbringen, und dann konnte sich jeder dieses
Heftchen von sechzig Seiten zu eigen machen; er hatte dann eine
Uberzeugung uber das Wesen des Menschen, iiber Reinkarnation
und Karma, uber die Entwickelung der Menschheit und der Erde,
und konnte nun mit dieser Uberzeugung durch das Leben wandern.
Und jemand, der das gern hatte, konnte vielleicht sagen: Ja, warum
macht es denn eigentlich diese anthroposophische Bewegung nicht
so, dafi sie in moglichst vielen Exemplaren diese hauptsachlichsten
Gesichtspunkte in die Welt hinausstreut, damit jeder Mensch sich
eine Uberzeugung dariiber aneignen kann? Warum tut diese Bewe-
gung das zunachst merkwiirdig Scheinende, daft sie jede Woche ein-
mal diejenigen, welche sich mit Geisteswissenschaft beschaftigen
wollen, zusammenruft, um immer von neuem das zu beschreiben,
was sich bequem auf sechzig Seiten unterbringen liefie? Was haben
denn, konnte man fragen, diese Anthroposophen jede Woche immer
wieder und wieder ihren Leuten zu sagen?
Nun, es entspricht vielleicht gewissen Glaubensbekenntnissen un-
serer Zeit, auch in bezug auf die Geistesforschung einen solchen kur-
zen Abrifi fur die Westentasche zu haben, um sich auf diese Weise
das Wichtigste aneignen zu konnen. Aber das ist es ja, was wir uns
immer mehr und mehr ins Gedachtnis rufen sollten, dafi es mit
einem solchen «Abrifi-Wissen» in der Geistesforschung nicht getan
ist - dafi es iiberhaupt im Grunde nicht auf das Wissen ankommt,
obwohl Geistesforschung in einem Wissen, in einer Erkenntnis be-
steht - , dafi es nicht geniigt, in allgemeinen Phrasen das Wesen der
Geistesforschung zu sehen, sondern in ganz bestimmten Erkenntnis-
sen. Aber wiederum geniigt es doch nicht, sich diese Erkenntnisse
etwa im Sinne der heutigen Zeit als eine allgemeine Uberzeugung an-
geeignet zu haben und dann damit zufrieden zu sein. Denn nicht dar-
um handelt es sich, eine solche Uberzeugung einmal zu haben, zu
wissen: Der Mensch lebt nicht nur einmal, es gibt Ursachenverhalt-
nisse, welche von einem Leben in das andere hinubergehen, es gibt
Reinkarnation und Karma. Das ist nicht das eigentlich Heilsame der
Geistesforschung, diese Lehren zu verbreiten, sondern sich einge-
hend und intim mit diesen Lehren, namentlich in bezug auf ihre
Einzelheiten immer wieder und wieder zu beschaftigen, sie unausge-
setzt auf seine Seele wirken zu lassen. Denn man hat im Grunde von
der Uberzeugung gar nichts, die uns einfach glauben lafit: Ja, der
Mensch lebt nicht nur einmal zwischen Geburt und Tod, er lebt ot-
ter; es gibt eine Reinkarnation, ein Karma und so weiter. Von dem
Glauben an diese Dinge hat man im Grunde nicht viel. Und es ist im
Grunde zwischen der Seele eines Menschen, der nicht weift, dafi es
eine Reinkarnation und ein Karma gibt, und zwischen der Seele
eines solchen Menschen, der das weifi, kein sehr grower Unterschied
in bezug auf die wirklichen Tiefen des Lebens. Unsere Seele wird im
anthroposophischen Sinne erst dann eine andere, wenn wir uns im-
mer wieder und wieder nicht nur mit den Allgemeinheiten, sondern
mit den besonderen Tiefen beschaftigen, die uns die Geistesfor-
schung zu sagen hat. So kommt es, dafi es gut ist, wenn wir uns im-
mer wieder verstandigen in bezug auf die anthroposophische Auffas-
sung dieser oder jener Lebenseinzelheit. Nur im allgemeinen zu wis-
sen, dafi es ein grofies Schicksalsgesetz gibt, welches einen Zusam-
menhang schafft zwischen vergangenen Taten, vergangenen Empfin-
dungen, vergangenen Gedanken eines Menschen und zwischen ge-
genwartigen und zukiinftigen Erlebnissen, dieses nur im allgemeinen
zu wissen, geniigt eben durchaus nicht. Erst dann wird Geisteswis-
senschaft eine Lebenssache, wenn wir diese allgemeinen Lehren an-
wenden konnen auf die einzelnen Erfahrungen des Lebens, wenn
wir imstande sind, unsere ganze Seele sozusagen einzustellen auf den
Gesichtswinkel, durch den wir das Leben in einer neuen Art anse-
hen. Daher soil heute zunachst eine kleine Betrachtung angestellt
werden liber das Karmagesetz, jenes grofie Schicksalsgesetz in bezug
auf Einzelheiten des Lebens. Dinge sollen zusammengefafk werden
vom Gesichtspunkte des Karmagesetzes, welche den meisten von
Ihnen bereits bekannt sind, die aber auch einmal unter den Gesichts-
winkel des Karma geriickt werden miissen.
«Karma» sagt im allgemeinen, dafi es einen Zusammenhang gibt in
der geistigen Welt zwischen dem, was heute geschieht und in der Zu-
kunft geschehen wird, und dem, was in der Vergangenheit gesche-
hen ist. Es ist nicht einmal ganz besonders gut, das Karma- oder
Schicksalsgesetz das Gesetz der Verursachung zu nennen und es
dann zu vergleichen mit dem Gesetz von Ursache und Wirkung in
der aufieren Welt. Wenn wir einen Vergleich haben wollen £iir die-
ses grofie Schicksalsgesetz, so miissen wir immer auch darauf sehen,
dafi dieser Vergleich als solcher stimmt, dafi er auch wirklich dasjeni-
ge veranschaulicht, was das Schicksalsgesetz sagt.
Nehmen wir einmal als Vergleich folgendes. Wir haben zwei Gefa-
fie mit Wasser und aufierdem zwei Metallkugeln, die gewohnliche
Zimmerwarme haben. Wir werfen die eine Kugel in das eine Wasser-
gefafi: Das Wasser bleibt, wie es ist. Jetzt nehmen wir die andere Ku-
gel, und nachdem wir sie gluhend gemacht haben, werfen wir sie in
das andere Wassergefafi: Das Wasser darinnen wird heifi! Warum ist
das Wasser in dem zweiten Gefafi heifier geworden? Warum nicht in
dem ersten? Es ist heifier geworden aus dem Grunde, weil die Kugel
selber, bevor sie in das Wasser hineingeworfen wurde, eine Verande-
rung durchgemacht hat, und die Veranderung durch das Gliihend-
machen hatte zur Folge die Erhitzung des Wassers. Es trat ein Ge-
schehnis auf, das die Folge war eines anderen Ereignisses, namlich
des Gliihendmachens. Mit dem, was in der vorhergehenden Zeit
Erlebnis, was Tatigkeit war, hangt dasjenige zusammen, was in der
Gegenwart oder Zukunft als Erlebnis, als Erscheinung uns ent-
gegentritt.
Wenn wir das Gesetz der geistigen Zusammenhange zwischen Ver-
gangenheit, Gegenwart und Zukunft in dieser Weise ins Auge fassen,
so werden wir es schon im gewohnlichen Leben, in dem Leben, das
rings um uns herum ablauft und das wir beobachten konnen, wenn
wir nur wollen, bestatigt finden, auch wenn wir noch lange nicht ir-
gendwelche hellseherischen Fahigkeiten entwickelt haben. Denn das
miissen wir ja immer wieder als eine goldene Regel feststellen: Rich-
tig bewiesen werden kann ein Gesetz der geistigen Welt nur mit der
hellseherischen Beobachtung, nur von dem Geistesforscher; dagegen
belegt werden durch aufiere Bestatigungen kann ein solches Gesetz
durch die Erlebnisse der aufieren Welt immer. Allerdings, um das
Karmagesetz im Leben bestatigt zu finden, dazu werden sich die
Menschen angewohnen miissen, schon das aufiere Leben ein wenig
genauer zu beobachten als das gewohnlich geschieht. Denn die
Menschen beobachten das Leben gewohnlich nicht weiter als, bild-
lich gesprochen, ihre Nase reicht. Was etwas weiter weg liegt, das
beobachten sie schon nicht mehr. Wer aber das aufiere Leben tiefer
beobachtet, der wird schon zwischen Geburt und Tod im Men-
schendasein das Karmagesetz wohl hinlanglich da oder dort bestatigt
finden konnen.
Wir wollen uns moglichst an Konkretes halten; nehmen wir ein-
mal den folgenden Fall an. Irgendein junger Mensch ware im fiinf-
zehnten Jahre seines Lebens durch irgendein Ereignis aus seiner bis-
herigen Lebensbahn herausgerissen worden. Sagen wir, er hatte
durch die Lage seiner Eltern bis zum funfzehnten Jahre studieren
konnen, und er ware im funfzehnten Jahre genotigt worden, viel-
leicht dadurch, dafi der Vater sein Vermogen verloren hat, den Kauf-
mannsstand zu ergreifen. Er ist also aus einem Lebensberuf heraus-
und in einen anderen hineingeworfen worden. Selbstverstandlich
handelt es sich nicht darum, irgendeinen Lebensberuf fur wertvoller
zu halten als einen anderen, sondern darum, dafi eine Veranderung
im Leben eintritt, wenn so etwas vor sich geht. Nun wird man wahr-
scheinlich, wenn man das Leben in dem heute gewohnlichen, mate-
rialistischen Sinne betrachtet, nichts Erhebliches unter dem Einflufi
einer solchen Erscheinung in dem Leben eines Menschen suchen
und dann auch nicht finden. Wer aber genauer beobachtet, der wird
finden, daft ein Mensch, der so in einen andern Beruf hineinkommt,
zunachst durch die Abwechselung, die ibm der neue Beruf darbietet,
Freude, Sympathie haben kann fur seinen Beruf, dafi er sozusagen
mit Interesse hineinwachst in diesen seinen Beruf. Dann kann aber
etwas Merkwiirdiges auftreten. Was Seelenerlebnisse sind, was Sym-
pathien und Antipathien sind im Berufe, das kann mit dem acht-
zehnten bis neunzehnten Jahre anfangen, eine andere Gestalt anzu-
nehmen. Die Freude am Berufe kann aufhoren, der Mensch kann an-
fangen, sich ganz anders zu verhalten zu seinem Beruf. Man wird in
gewisser Weise ratios sein gegenuber dem, was sich dann in der Seele
eines solchen Menschen zutragt, wenn man niemals etwas gehort hat
von der Anthroposophie.
Was ist denn da geschehen? Es ist das geschehen, dafi der Mensch
von dem fiinfzehnten Jahre an, als er in einen neuen Beruf versetzt
worden ist, sich mit Interesse in diesen Beruf hineingefunden hat.
Dieses Interesse hat zunachst jene Empfindungen und Seelenstim-
mungen, die sich herangebildet haben, als dieser Mensch sich ganz
anders betatigt hatte, zuriickgeschoben. Dann kommt aber eine
Zeit, wo das alles mit um so grofierer Kraft durchbricht. Geradeso
wie wenn man einen elastischen Korper gedriickt hat - man kann
eine Weile driicken, dann aber schnellt die Masse um so starker zu-
riick - , so kann die Folge sein, dafi die Interessen, die eine Weile zu-
riickgeschoben worden sind, jetzt ganz besonders ausbrechen. Im
achtzehnten bis neunzehnten Jahre bricht dann alles hervor, was
sich an Empfindungen, an Stimmungen in die Seele hineingedrangt
hat drei Jahre vor jener Veranderung, das heifk im achtzehnten bis
neunzehnten Jahre alles dasjenige, was sich im elften bis zwolften
Jahre in die Seele hineingedrangt hatte und so weiter. Und man fin-
det sich nur zurecht im Leben eines Menschen, wenn man sich sagen
kann: Da ist mit dem fiinfzehnten Jahre ein Lebensknotenpunkt ein-
getreten, und es treten nach diesem Zeitpunkt Geschehnisse auf,
welche in ihren Wirkungen nach aufien ebenso viele Jahre spater lie-
gen, als ihre Ursachen ebenso viele Jahre vor diesem Knotenpunkt
liegen.
Denken Sie einmal, wie man einem Menschen helfen kann in be-
zug auf Seelenstimmungen und Schwierigkeiten im Leben, wenn
man in der Lage ist, sich zu fragen: Wo liegt ein solcher seelischer
Knotenpunkt im Leben dieses Menschen? - Er kann sehr intim lie-
gen. Wenn man aber auf einen solchen Knotenpunkt kommt, dann
kann man zuriickrechnen und hat dann eine geistige Wirkung
ebenso viele Jahre nach diesem Lebensknotenpunkt, als man eine
Ursache hat ebenso viele Jahre vor demselben. So bekommt man
eine Anschauung von dem Karma. Die Erkenntnis hilft uns im Le-
ben weiter und wir konnen uns sagen: Solche Ursachen und Wir-
kungen im Leben eines Menschen hangen nach bestimmten Zeitrau-
men zusammen, so dafi sie sich nach einem bestimmten Zeitpunkt
im Leben richten; und wenn wir von diesem Zeitpunkt vorwarts-
und zuriickzahlen, so konnen wir den Zusammenhang von Ursache
und Wirkung finden.
Nun kann sich so etwas naturlich durch den Eintritt anderer Er-
eignisse verdecken. Es konnte zum Beispiel jemand kommen und sa-
gen: Das Beispiel, das du uns da gegeben hast, stimmt nicht! Ich habe
das gerade bei einem jungen Menschen erlebt, bei dem das nicht der
Fall ist. - Ja, ich habe es auch schon erlebt, dafi zwei Leute zusam-
men Billard spielten, da kam gerade der Kellner vorbei und stiefi
denjenigen an, der gerade am Spiel war, und die Kugel flog in einer
ganz anderen Richtung, als sie sonst geflogen ware. Aber deshalb ist
das Gesetz der Verursachung nicht falsch, sondern es sind eben ande-
re Verhaltnisse eingetreten. Wir mussen aber dabei bedenken, dafi
wir das Gesetz niemals kennenlernern, wenn wir nicht von denjeni-
gen Dingen absehen, welche das Gesetz storen. Es konnen nach dem
fiinfzehnten Jahre wiederum andere Umstande eintreten, welche das
Gesetz durchkreuzen. Gesetze lernt man nicht dadurch kennen, dafi
man das Leben blofi beobachtet, sondern dadurch, dafi man sich zu-
nachst die richtige Art aneignet, die Erscheinungen des Lebens zu-
sammenzubringen. Denn im Leben werden die Dinge fortwahrend
gestort, da zeigen sich die Gesetze nicht so leicht. Dennoch kann
man das Leben nur regeln, wenn man die Gesetze so kennt, wie sie
gefunden werden miissen. Wenn man die Einzelheiten kennt, so
kann man sich bei einem jungen Menschen, der eine solche Umknik-
kung des Lebens erfahren hat, sagen: Es ist eine Aufgabe des Erzie-
hers, jetzt darauf zu achten! - Da wird das Karma ein Lebensgesetz,
da tritt der Fall ein, wo man das Gesetz im Leben handhaben kann,
da wird es erst niitze. Man wird vielleicht in einem solchen Fall dem
Kinde, nachdem man ihm nicht mehr das geben kann, was man ihm
vorher gegeben hat, jetzt erst ein Berater sein konnen. Aber das
kann man nur sein, wenn man solche Zusammenhange kennt, wenn
man weifi, was dem Menschen fehlt und gerade dort eingreifen und
wirken kann, wo der betreffende Mangel im Leben einsetzt. Wenn
man das nicht weifi, kann man dem jungen Menschen kein Berater
sein. Da wird das Karmagesetz zu einem Einschlag des Lebens, da
lernt man ein Berater sein im Leben, wenn man das Karmagesetz als
ein Lebensgesetz betrachtet.
Es liegen ja naturlich nicht nur solche Zusammenhange im Leben
vor, sondern das Karmagesetz zwischen Geburt und Tod lebt sich
auch noch in einer anderen Weise aus. So besteht ein merkwurdiger
Zusammenhang zwischen den Erlebnissen eines Menschen in der er-
sten Halfte seines Lebens und denen in der zweiten Lebenshalfte,
nur beobachten ihn die Menschen nicht. Beispielsweise lernt man
einen Menschen kennen; er ist jung und man verliert ihn aus den
Augen, bevor er in ein bestimmtes Alter gekommen ist. Oder man
lernt einen Menschen in einem spateren Alter kennen und kennt
dann nicht seine Jugend; oder wenn man vielleicht auch die Jugend
kennt, so vergifit man das, was sich vor vielen Jahren zugetragen hat.
Anfang und Ende des Lebens zu betrachten in den Fallen, wo einem
das moglich ist, das wiirde die schonste Bestatigung des Karmageset-
zes schon im Dasein zwischen Geburt und Tod liefern.
Dabei erinnern Sie sich vielleicht an etwas, was in den offentlichen
Vortragen gesagt worden ist, zum Beispiel uber den Zorn, der als ein
edler Zorn in der Jugend auftritt. Wir haben damals charakterisiert,
wie ein junger Mensch nocht nicht durchschauen kann eine Unge-
rechtigkeit, die sich in seiner Umgebung abspielt; sein Intellekt ist
noch nicht reif genug dazu, urn eine Ungerechtigkeit, die sich ab-
spielt, vollstandig zu durchschauen. Aber es ist durch die weise
Weltenlenkung dafiir gesorgt, dafi wir ein Gefiihlsurteil haben, be-
vor wir zu einem Verstandesurteil kommen konnen. Es regt sich bei
einem guten Menschen, wenn die Anlagen dazu vorhanden sind, in
der Kindheit, wenn eine Ungerechtigkeit vor sicht geht, ein edler
Zorn, der einfach als Gefuhl da ist," und der das einzige ist, wodurch
die Seele die Ungerechtigkeit empfinden kann. Die Ungerechtigkeit
mit dem Intellekt zu durchschauen, dazu ist der Mensch noch nicht
reif. Wenn diese edle Zornesregung aber im Charakter eines Men-
schen vorhanden ist, dann sollen wir sie wohl beachten. Denn alles,
was so als ein Gefiihlsurteil gegeniiber einer Ungerechtigkeit erlebt
wird, das bleibt in der Seele. Dieser edle Zorn der Jugendjahre
durchdringt die Seele und wandelt sich im Laufe des Lebens um.
Und was sich so im Verlaufe des Lebens umwandelt, das tritt in
einer anderen Gestalt in der zweiten Lebenshalfte wieder auf: Es tritt
auf in einer Gefiihlsneigung zur liebenden Milde und zum Segnen.
Es wandelt sich also der edle Zorn der Jugend, der ersten Lebenshalf-
te um, so daft er im spateren Leben auftritt als liebende Milde, als
segnende Gesinnung. Und wir werden nicht leicht finden - wenn
alle anderen Dinge so stimmen, dafi nichts die Sache stort - , dafi in
der zweiten Lebenshalfte des Menschen jene liebende, segenspenden-
de Milde auftritt, ohne dafi sie sich nicht in den Jugendjahren ausge-
driickt hat durch einen edlen Zorn, verursacht iiber Torheit, iiber
Dummheit, iiber Hafilichkeit im Leben. So haben wir einen karmi-
schen Zusammenhang im gewohnlichen Leben, und wir konnten
ihn in ein Bild kleiden und sagen: Jene Hand, die sich nicht einmal
auch in der ersten Lebenshalfte in edlem Zorn ballen konnte, wird
sich nicht leicht zum Segnen ausstrecken konnen in der zweiten Le-
benshalfte.
Solche Dinge kann allerdings nur derjenige beobachten, der, wie
gesagt, etwas weiter die Lebensbeobachtungen anstellt, als gerade sei-
ne Nase reicht. Aber man tut das ja im gewohnlichen Leben nicht.
Ich konnte an einem ganz trivialen Beispiel zeigen, wie wenig man
dazu geneigt ist, solche Dinge im Leben zu beobachten.
Ich habe schon ofter erwahnt: Fur denjenigen, der intime Lebens-
erkenntnisse sich erwerben will, gerade um okkulte Seelenverhalt-
nisse zu vertiefen, fiir den ist es aufierordentlich giinstig, zum Bei-
spiel unter anderem als Erzieher durch bestimmte Jahre hindurch
gewirkt zu haben. Da lernt man in ganz anderer Weise die Seelen
kennen als durch die gewohnliche Schulpsychologie, die gewohnlich
fiir eine Seelenerkenntnis ganz wertlos ist. Seelenerkenntnis eignet
man sich an, wenn man die Seele nicht nur beobachtet, sondern
wenn man das Leben anderer unter eigener Verantwortung Jahre fur
Jahre selber zu leiten hat. Da lernt man auch intimer beobachten.
Wahrend meiner langjahrigen Erziehertatigkeit konnte ich nicht nur
diejenigen Kinder beobachten, welche mir gerade zur Erziehung an-
vertraut waren, sondern Sie wissen ja, da kommen bei Gelegenhei-
ten verschiedene Familien zusammen, und dabei lernt man auch an-
dere Kinder kennen, nicht nur Kinder in den verschiedensten Le-
bensaltern, sondern auch Kinder sozusagen von dem ersten Moment
an, wo sie in die Welt treten.
Es ist jetzt vielleicht funfundzwanzig bis dreifiig Jahre her, da hatte
man eine bestimmte Zeitlang in der Medizin - bei der Sie vielleicht
auch schon bemerkt haben, wie sie eine von fiinf zu fiinf Jahren ste-
tig sich andernde Auffassung hat von dem, was dem Menschen «ge-
sund» ist - eine ganz besondere Anschauung: namlich die Anschau-
ung, dafi es besonders starkend ware fiir schwache Kinder, wenn
man ihnen im Alter von drei, vier, fiinf Jahren taglich ein tiichtiges
Glas Rotwein verabreicht. Ich habe Kinder gesehen, die dieses Glas
Rotwein bekommen haben, und auch solche, die es nicht bekom-
men haben. Ich konnte nun warten mit meinem Beobachten - denn
selbstverstandlich, die Medizin ist ja zunachst unfehlbar; gegen sie
etwas auszusprechen, wiirde unter den Vorurteilen einer jeweiligen
Gegenwart gar nicht viel fruchten - , ich konnte also mit meinen Be-
obachtungen warten. Die Kinder nun, welche damals von zwei bis
fiinf Jahren zu ihrer Starkung taglich ihr Glas Rotwein bekommen
haben, sind jetzt jiingere Leute von funfundzwanzig bis siebenund-
zwanzig Jahren, und ich habe gefunden - denn ich habe wohl dar-
auf geachtet, denn da erst zeigen sich die Wirkungen einer solchen
Anschauung -, ich habe gefunden: alle die Kinder, welche ihren
Rotwein bekommen haben, sind «Zappel-Philippe» geworden, ihr
astralischer Leib zappelt, und sie konnen nicht viel mit ihm anfan-
gen, sie wissen nicht, wie sie mit ihrem unwillkiirlich sich regenden
Seelenleben sich zurechtfinden sollen. Diejenigen dagegen, welche
damals «leider», wie man sagte, nicht mit jenem Glas Rotwein ge-
starkt werden konnten, sind jetzt ganz in sich gefestigte Naturen ge-
worden, die nun nicht so zappelig sind in ihrem astralischen Leib
oder in ihrem Nervensystem, wie man es materialistisch ausdriickt.
Da haben wir einen solchen Zusammenhang im Leben. Er ist ja
ein trivialer, nicht ein besonders das Karma illustrierender, aber er
ist ein solcher, an dem wir sehen, daft Lebensbeobachtung nicht
blofi so weit gehen soil, wie unsere Nase reicht, sondern daft sie wei-
tere Zeitraume uberschauen mufi, und daft es nicht genugt, wenn
man einmal festgestellt hat: Dieses oder jenes Mittel wirkt so oder
so. Denn dasjenige, was da eigentlich angeregt wird, kann der wirkli-
che Beobachter erst nach vielen Jahren konstatieren. Nur die groften
Lebenszusammenhange, und alles, was uns anweist, die groften Le-
benszusammenhange zu suchen, kann uns in Wahrheit aufklaren
iiber die Art, wie Ursache und Wirkung im Menschenleben zusam-
menhangen. So mufi man versuchen, auch in bezug auf die eigentli-
chen Seeleneigenschaften weiter auseinanderliegende Lebenserschei-
nungen zusammenzuhalten. Dann kann man das Gesetz vom Karma
auch schon zwischen Geburt und Tod sehen, dann findet man sehr
haufig, wie die Ereignisse des spateren Alters zusammenhangen mit
dem, was in der ersten Lebenshalfte erlebt worden ist.
Erinnern Sie sich auch noch an das, was iiber die Mission der An-
dacht gesagt worden ist, iiber die Wichtigkeit, mit dem Gefuhl der
Verehrung hinaufschauen zu konnen zu irgendeinem Wesen, zu ir-
gendeiner Erscheinung, die man noch nicht versteht, die man ver-
ehrt gerade deshalb, weil man ihr mit dem Verstande noch nicht ge-
wachsen ist. Und immer gern mache ich darauf aufmerksam, wie
schon es ist, wenn der Mensch sich sagen kann: Ich habe einmal als
Kind gehort von einem besonders verehrungswiirdigen Familien-
mitgliede, das man ungeheuer verehrt hatte. Ich hatte es noch nicht
gesehen, aber eine tiefe Ehrfurcht war in mir fur diese Person-
lichkeit vorhanden. Dann wurde ich einmal, als die Gelegenheit
gekommen war, zu diesem verehrten Familienmitgliede hingefiihrt.
Und mit innerster, heiliger Scheu legte ich die Hand auf die Tur-
klinke zu dem Zimmer, wo diese bedeutsame Personlichkeit erschei-
nen sollte!
Jenem Gefuhl andachtiger Verehrung wird man dankbar sein im
spateren Leben, denn man verdankt ungeheuer viel dem, dafi man in
der ersten Halfte des Lebens hat verehren konnen. Und andacht ige
Verehrung ist ganz besonders gut in jedem Leben. Ich habe schon
Menschen gekannt, die aufmerksam gemacht worden sind auf das
Gefuhl andachtiger Verehrung gegeniiber einem Geistig-Gottlichen,
und die dagegen einwandten: Ich bin Atheist, ich kann kein Geisti-
ges verehren. - Solchen Menschen kann man sagen: Sieh dir einmal
den Sternenhimmel an! Kannst du ihn machen? Sieh dir den weis-
heitsvollen Bau an und denke dir: Da kann man hineinsenken ein
Gefuhl wahrer echter Ehrfurcht! - Es gibt viel in der Welt, dem wir
nicht mit dem Verstande gewachsen sind, aber zu dem wir vereh-
rend aufschauen konnen. Und besonders in der Jugend ist viel vor-
handen, zu dem wir andachtig hinaufschauen konnen, ohne dafi wir
es zu erkennen vermogen.
Andacht in der ersten Lebenshalfte verwandelt sieh nun wieder in
eine ganz besondere Lebenseigenschaft in der zweiten Halfte. Wir
haben wohl alle schon von Personlichkeiten gehort, die durch das,
was sie sind, etwas wie eine Wohltat sind fur ihre Umgebung. Sie
brauchen gar nicht etwas Besonderes zu reden, sie brauchen nur da
zu sein. Es ist, wie wenn durch die ganze Art und Weise ihres We-
sens etwas Unsichtbares von ihnen ausstromte und sieh den anderen
Seelen mitteilte. Ihre ganze Art wirkt wohltuend und beseligend auf
die Umgebung. Wem verdanken solche Menschen diese Kraft, durch
ihre seelischen Eigenschaften wohltuend auf ihre Umgebung zu wir-
ken? Dem Umstande verdanken sie es, dafi sie in der Jugend haben
erleben diirfen ein Leben der Andacht, dafi sie viel Andacht gehabt
haben in der ersten Lebenshalfte. Andacht in der ersten Lebenshalfte
verwandelt sich in die Kraft, unsichtbar segnend und wohltuend zu
wirken in der zweiten Lebenshalfte.
Da haben wir wiederum einen karmischen Zusammenhang, der
sich zwischen Geburt und Tod klar und deutlich ausdriickt, wenn
man ihn nur beobachtet. Und im Grunde genommen war es aus
einem schonen karmischen Gefiihl heraus gesprochen, als Goethe
zum Motto eines seiner Werke die schonen Worte wahlte: «Was
man in der Jugend wiinscht, hat man im Alter die F\ille!» - Freilich,
wenn man nur kurze Zusammenhange im Leben beobachtet, wird
man oft von unbefriedigten Wiinschen sprechen konnen; wenn man
grofie Zusammenhange betrachtet, weniger.
Alle diese Dinge, die so charakterisiert worden sind, konnen nun
wiederum iibergehen in echte Lebenspraxis. Und im Grunde kann
nur der, welcher das Leben so geisteswissenschaftlich ansieht, ein
richtiger Erzieher sein. Denn er wird in der ersten Lebenshalfte dem
Menschen dasjenige geben konnen, von dem er weifi, dafi dieser es in
der zweiten Halfte anwenden kann. Heute weifi man nichts von je-
ner Verantwortung, die man iibernimmt, wenn man dieses oder je-
nes dem jungen Menschen einimpft. Aber heute ist es so gebrauch-
lich geworden, iiber diese Dinge von oben herab zu sprechen, sozu-
sagen von dem hohen Pferd des materialistischen Denkens aus iiber
diese Dinge zu sprechen. Und ich mochte Ihnen diese eben getane
Behauptung illustrieren durch eine kleine Erfahrung, welche hier in
Berlin von uns selber gemacht worden ist.
Da kam einmal ein Besucher, so einer, der glaubt, wenn er nur ein-
mal, einmal im Leben, eine oder zwei Versammlungen sich anhort,
dann hat er ein Urteil iiber die Sache. Insbesondere suchen solche
Leute ein Urteil iiber ahnliche geistige Bewegungen, wie die unsere
es ist, in der Art zu gewinnen, dafi sie nachher «sachgemafi» iiber die
Sache schreiben konnen. Diejenigen, welche heute die Welt mit Zei-
tungsartikeln versorgen wollen, sie haben gerade den Glauben, dafi
man sich in dieser Weise ein Urteil iiber etwas verschafft. Man geht
einmal hin, und dann weifi man, was los ist! - Dieser Besucher, den
ich meine, der hat auch geschrieben, und es war putzig, als einmal in
einer amerikanischen Zeitschrift iiber eine Zweigversammlung bei
uns gelesen werden konnte. Naturlich war auch die Beschreibung
recht merkwiirdig zutreffend. Aber wie gesagt: Was man geisteswis-
senschafdich wirklich erfassen will, das kann man sich naturlich auf
diese Weise durchaus nicht aneignen, sondern man mufi sich klar
sein, dafi man nur dann in das spirituelle Leben hineinkommt, wenn
man den Willen hat, die Einzelheiten wirklich mitzuerleben und
durchzumachen.
Nun habe ich das ganze nur erzahlt, um das Urteil des betreffen-
den Besuchers zu charakterisieren, das er gefallt hat und mit dem er
nicht hinter dem Berge gehalten hat. Dieser Besucher sagte: An der
Geisteswissenschaft gefalle ihm das nicht, dafi sie alles so einteile;
dafi man die Welt einteile in physische Welt, astralische Welt, deva-
chanische Welt und so weiter. Warum solle man das tun, alles so ein-
teilen? - Das hatte er alles aus ein oder zwei Besuchen. Wie er-
schrecklich mufite es erst auf ihn gewirkt haben, wenn er auch noch
die andern Einteilungen gehort hatte! Der betreffende Besucher war
der Anschauung, man brauche nicht die Dinge so zu betrachten,
sondern man rede «im allgemeinen» iiber die geistige Welt, warum
soil man da erst in Klassen unterscheiden? - So redet man heute auf
dem Gebiet der Erziehung, so redet man auf alien Gebieten des Le-
bens, so redet im Grunde genommen auch die heutige Wissenschaft.
Aus der Willkiir der Lebensbeobachtung, nicht aus der sachgemafien
Erforschung der einzelnen Lebenserscheinungen redet die Welt her-
um. Daher ist es auch so schrecklich, wie auf jemanden, der die Welt
wirklich betrachten kann, solche Reformen und Programmreden
wirken miissen, denn sie verursachen etwas, was man vergleichen
kann mit einem furchtbaren physischen Schmerz. Man braucht heu-
te nur ein gewohnliches wissenschaftliches Buch in die Hand zu neh-
men. Da mogen die Beobachtungen noch so gewissenhaft ausgefuhrt
sein, die Art und Weise, wie die Dinge dargestellt sind, ist einfach
furchtbar, weil gar kein Begriff dafur vorhanden ist, wie die Erschei-
nungen beobachtet werden sollen. Und so bewundert man heute
auch mancherlei Menschen, die aus der Willkiir dies oder jenes, weil
es ihnen gerade einfallt, in die Welt hinausschreien.
Das gerade ist wichtig, daft sich der Anthroposoph das Bewufttsein
aneignet, daft das Leben bis in die Einzelheiten genau nach jenen Me-
thoden beobachtet werden sollte, welche uns das Karma und die an-
deren Lebensgesetze fur die Lebenspraxis an die Hand geben. Daher
konnen wir einen Segen fur die zukiinftige Entwickelung der
Menschheit, auch in bezug auf Erziehungsfragen, nur dann erhoffen,
wenn die anthroposophische Anschauung eindringt auch in die
Grundsatze der Erziehung. Karma ist etwas, was zugleich eine feste
Stutze gibt zum Beispiel fur alle Lebensbeobachtung, die auf Erzie-
hung eingeht.
Da ist es zum Beispiel unendlich wichtig, daft wir wissen, wie eine
gewisse Erscheinung in der Erziehung karmisch zusammenhangt,
die sich in der Ansicht ausdriickt: Wenn ein Kind sich richtig ent-
wickelt, mufi es so oder so werden. Mir gefallt das fur das Leben! -
Und jetzt denkt man, das Kind sei ein Sack, und da konnte man alles
hineinstopfen, was man gerade fur das Richtige halt. Man pragt seine
Wesenheit und was man selbst als Sympathie oder Antipathie emp-
findet, dem Kinde auf. Wiirde man wissen, was das im karmischen
Zusammenhange ergibt, so wiirde man die Sache anders ansehen.
Man wiirde sehen, daft dasjenige, was so in das Kind wie in einen
Sack hineingestopft worden ist, sich karmisch dahin erfullt, daft es
den Menschen diirr und trocken macht, daft es das Kind friihzeitig
altern macht und gerade das Zentrum seines Wesens ertotet. Wir
miissen, falls wir ein Kind erziehen wollen, sozusagen indirekt an
das Kind herantreten, wenn wir glauben, daft es diese oder jene Ei-
genschaft sich aneignen soil. Da sollte man nicht dafur sorgen, diese
oder jene Eigenschaft dem Kinde einzupfropfen, sondern man mufi
zuerst ein Bediirfnis erregen fur diese Eigenschaft, ein Verlangen in
dem Kinde erregen, diese Eigenschaft sich anzueignen. Wir miissen
also dabei um einen Grad weiter zuriickgehen. Wir miissen sogar,
wenn wir wissen, es ist einem Kinde dieses oder jenes als Speise gut,
sie ihm nicht aufzwingen, sondern dafur sorgen, daft es zuerst Ge-
schmack dafur empfindet, so daft es selbst diese Speise verlangt. Wir
miissen Verlangen und Begierde regeln, damit das Kind von sich aus
verlangt, was fur es gut ist. Das ist eine andere Art als die, alles wie in
einen Sack hineinzupacken und zu sagen: Also hinein damit! -
Wenn wir also zuerst die Bedurfnisse regeln, treffen wir den Lebens-
kern des Kindes, und dann werden wir sehen, dafi sich das in der
zweiten Halfte des Lebens karmisch erfullt, indem' der Mensch wie-
derum Lebensfreude, Lebenskraft ausstrahlt, so dafi ein solcher
Mensch in der zweiten Lebenshalfte nicht diirr und trocken ist, son-
dern lebendig bleibt aus dem Zentrum seines Wesens heraus.
Wenn wir so das Karmagesetz betrachten, werden wir uns sagen,
es geniigt nicht, wenn wir in ein Biichelchen hineingeschrieben ha-
ben: Es gibt ein Karmagesetz, einen Zusammenhang zwischen Frii-
herem und Spaterem sondern wir miissen das Leben unter dem
Gesichtspunkt des Karmagesetzes betrachten. Erst wenn man in die
Einzelheiten des Lebens hinaufkommt, ist Anthroposophie in der
wahren Gestalt da, dann mufi man aber auch den Willen haben, im-
mer wieder und wieder zu arbeiten, das heifit, niemals wieder von
ihr abzukommen. Man mufi Zeit finden, die Erscheinungen des
Lebens in den Gesichtspunkt der Anthroposophie zu riicken.
Das waren einige solche Gesichtspunkte, die Zusammenhange in-
nerhalb des Lebens zwischen Geburt und Tod zeigen sollten. Nun
konnen wir allerdings das Karmagesetz auch hinreichend verfolgen
bis jenseits von Geburt und Tod, ein Leben mit dem anderen, oder
den anderen verbindend. Was wir heute in diesem Leben zwischen
Geburt und Tod erfahren, das miissen wir auch ankniipfen an Din-
ge, die friiher von uns erlebt wurden, oder im spateren Leben von
uns erlebt werden. Da konnten wieder unzahlige Einzelheiten ange-
fuhrt werden. Ich mochte mich heute damit begniigen, eine wichtige
Lebensfrage vom karmischen Gesichtspunkte aus zu beleuchten, in-
sofern Karma hineinreicht von einem Leben in das andere, und zwar
die Frage nach Gesundheit und Krankheit, und namentlich nach der
letzteren.
Es konnte mancher glauben, wenn er von irgendeiner Krankheit
befallen wird, so ware es im Sinne des Karma richtig, zu sagen: Ich
habe sie eben verdient, das ist mein Schicksal! - Aber damit allein ist
das Karmagesetz gar nicht immer in der richtigen Weise charakteri-
siert. Bei einer Krankheit miissen wir uns erst klar sein, worinnen
eigentlich ihr Wesen, geistig erfaftt, liegt. Da tun wir gut, wenn wir
uns zunachst einmal damit beschaftigen, worinnen zum Beispiel das
Wesen eines Schmerzes besteht. Von da aus werden wir dann iiber-
leiten konnen zu einem geistigen Verstandnis der Krankheit.
Worinnen besteht das Wesen des Schmerzes? Wir wollen jetzt
einen ganz aufteren physischen Schmerz betrachten, zum Beispiel,
wenn wir uns m den Finger geschnitten haben. Warum schmerzt es?
Wir werden niemals geistig uns iiber das Wesen des Schmerzes auf-
klaren konnen, wenn wir nicht wissen, daft dieser physische Finger
durchdrungen ist von einem Atherfinger und von einem astralischen
Finger. Was nun der physische Finger darstellt, wie er geformt ist,
wie das Blut in ihm flieftt, wie die Nerven verlaufen, das hat alles der
Atherfinger geformt. Er ist der Bildner und besorgt heute noch im-
mer, daft die Nerven in der entsprechenden Weise angeordnet sind,
daft das Blut richtig flieftt und so weiter. Wie nun der Atherleib dar-
an formt, das wird geregelt durch den astralischen Leib, der das Gan-
ze durchdringt. Warum es uns nun schmerzt, wenn wir uns in den
Finger geschnitten haben, das wollen wir uns durch einen aufteren
Vergleich klarmachen.
Nehmen Sie an, es ware eine Lieblingsbeschaftigung von Ihnen, je-
den Tag einmal Ihre Blumen im Garten zu begieften, Sie fiihlen dar-
in eine gewisse Befriedigung. Eines Morgens aber ist Ihre Giefikanne
ruiniert oder gestohlen worden, und Sie konnen jetzt nicht Ihre Blu-
men im Garten begieften. Sie sind dariiber betriibt. Das ist kein phy-
sischer Schmerz; aber in der Entbehrung Ihrer Lieblingsbeschafti-
gung konnen Sie so etwas wie einen physischen Schmerz empfinden.
Sie konnen eine Tatigkeit, weil das Instrument nicht da ist, nicht
ausiiben. Was hier aufterlich mangelhaft ist und was deshalb auch
nur einen moralischen Schmerz hervorrufen kann, das wird zu
einem physischen Schmerz durch folgendes.
Der Atherleib und der astralische Leib sind darauf eingerichtet,
dafi sie den Finger in der Art in Ordnung halten, wie er jetzt ist. Den
Atherfinger und den astralischen Finger kann ich niemals zerschnei-
den. Wenn ich meinen Finger entzweischneide, so geschieht das, daft
der Atherfinger nicht mehr richtig eingreifen kann. Er ist gewohnt,
den richtigen Zusammenhang des Fingers zu haben und dieser Zu-
sammenhang ist jetzt gestort, ebenso wie vorher meine Tatigkeit, als
ich den Garten begiefien wollte. Der astralische Leib und der Ather-
leib konnen also nicht eingreifen, und das macht sich geltend im
astralischen Leibe als Schmerz, als Entbehrung. Die gewohnten Ta-
tigkeiten nicht ausiiben, in der gewohnten Weise nicht eingreifen zu
konnen, das gibt sich im astralischen Leib als Schmerz kund. Im Au-
genblick aber, wo der Atherleib und der astralische Leib nicht mehr
richtig eingreifen konnen, macht sich auch eine grofiere Anstren-
gung geltend. Geradeso wie wir in unserem Falle, wenn wir den Gar-
ten begiefien wollen, Anstrengungen machen, die Giefikanne zu su-
chen oder dergleichen, so miissen jetzt auch astralischer Leib und
Atherleib eine grofiere Tatigkeit aufwenden, um die Sache wieder-
um in Ordnung zu bringen. Und diese grofiere Tatigkeit, welche da
aufgewendet werden mufi, ist das eigentlich Heilende. Da wird das
Geistige zu einer energischeren Tatigkeit aufgerufen, und das ist das
eigentlich Heilende. Dasjenige, was die geistigen Glieder des Men-
schen zu einer groEeren Tatigkeit aufrufen kann, das bringt die Hei-
lung hervor. Nun beruht jede Krankheit darauf, da£ durch irgend-
eine Unordnung im physischen Leib oder auch im Atherleib des
Menschen die geistigen Teile nicht in der richtigen Weise eingreifen
konnen, sozusagen daran gehindert sind, und die Heilung besteht in
der Aufrufung einer starkeren Widerstandskraft gegen die Unord-
nung. Nun kann eine Krankheit entweder so verlaufen, daft sie ge-
heilt wird, oder wir konnen daran sterben. Betrachten wir beide Fal-
le einmal karmisch.
Wenn die Krankheit so verlauft, dafi wir gesund werden, so haben
wir in unsere Glieder, die wir uns aus friiheren Inkarnationen mitge-
bracht haben, damals jene starken Lebenskrafte hineingelegt, die
wirklich heilend eingreifen konnen. Und wenn wir auf unsere friihe-
ren Inkarnationen zunickblicken, so konnen wir sagen: Wir waren
damals nicht nur imstande, unseren Korper in der richtigen Weise
zu versorgen durch das, was wir normalerweise im Leben haben,
sondern wir haben uns noch einen Reservefonds mitgebracht, den
wir herausholen konnen aus den geistigen Lebensgliedern.
Nun nehmen wir an, wir sterben. Was ist dann der Fall? Dann
werden wir sagen miissen: Wenn der Versuch gemacht worden ist
zur Heilung, so haben wir auch die starkeren Krafte in uns aufgeru-
fen. Aber sie reichten nicht aus, sie waren nicht hinlanglich. Aber
immer, wenn wir Krafte aufrufen, so dafi sie sich stark geltend
machen, ist es nicht nutzlos. Wir haben dazu in der Tat starkere An-
strengungen machen miissen. Sind wir in diesem Leben noch nicht
in der Lage gewesen, Ordnung herzustellen in irgendeinem Gebiete
unseres Organismus, so sind wir wenigstens starker geworden. Wir
haben Widerstand leisten wollen. Es hat nur nicht gereicht. Aber
wenn es auch nicht gereicht hat, so geht es doch nicht verloren, was
wir da an Kraften aufgerufen haben. Das geht mit hinuber in die
nachste Inkarnation, und das betreffende Organ wird starker, als
wenn wir die Krankheit nicht gehabt hatten. Und wir werden dann
imstande sein, dasjenige Organ, das uns in diesem Leben vorzeitig zu
Tode gebracht hat, mit einer besonderen Starke und Regelmafiigkeit
auszubilden. Es wird also auch dann eine gunstigere Wirkung da
sein, wenn wir bei richtiger Behandlung der Krankheit diese nicht
zur Heilung bringen konnen. Karmisch miissen wir auch in diesem
Falle in einer Krankheit etwas sehen, was sich im ferneren Leben in
einer gunstigeren Weise ausleben kann. Im kommenden Leben kon-
nen wir dann in diesem oder jenem Falle dadurch eine besondere
Starke haben, dafi wir eine Krankheit zwar bekampften, aber sie
nicht iiberwunden haben. Deshalb darf man aber nicht sagen: Dann
ist es vielleicht gerade gut, die Krankheit zu lassen; denn wenn wir
die Krankheit sich recht ausleben lassen und nicht heilend eingrei-
fen, dann werden die Krafte in unserm Innern starker, und das Kar-
ma wird sich um so besser erfiillen! - Das ware ein Unsinn. Es han-
delt sich gerade darum, die Heilung so zu veranstalten, dafi mog-
lichst gunstig die ausgleichenden Krafte eingreifen konnen; das heifk
also, dafi wir so viel als nur moglich ist, zur wirklichen Heilung tun,
ganz gleichgiiltig, ob eine Heilung eintritt oder nicht. Das Karma ist
immer lebensfreundlich, niemals lebensfeindlich!
Das Karmagesetz, wie es von einem Leben ins andere reicht, hat
sich dadurch an einem besonderen Beispiel als lebensstarkend ge-
zeigt. Und wir konnen sagen: Wenn wir auf diesem oder jenem Or-
gan besonders stark sind, so weist uns das hin auf ein vorhergehen-
des Leben, in welchem dieses Organ, in dem wir jetzt besonders
stark sind, einmal besonders krank war. Wir haben es damals nicht
ganz heilen konnen. Dafiir wurden aber die Krafte aufgerufen, wel-
che dieses Organ jetzt als ein besonders starkes erscheinen lassen. -
So sehen wir, wie aus einem Leben in das andere die Ereignisse, die
Tatsachen, hineinreichen, wie unser Wesenskern immer starker und
starker wird, wenn wir uns auch in der richtigen Weise bewufit sind,
wie wir ihn starker machen konnen. Und wir konnen auf diese Wei-
se immer mehr und mehr zu einem lebendigen Verstandnis unseres
geistigen Wesenskernes durch das Karmagesetz kommen.
Nun kommen wir zu einer Antwort auf die Frage: Warum ver-
sammeln wir uns so oft? - Wir versammeln uns so oft, weil wir
nicht nur unsere Erkenntnis bereichern wollen, wenn wir Lehren
aufnehmen, sondern weil die Lehren, wenn sie in der richtigen Wei-
se gegeben sind, geeignet sind, unseren Wesenskern immer starker
und kraftiger zu machen. Wir giefien einen geistigen Lebenssaft in
unsere Angelegenheiten, wenn wir zusammenkommen und uns mit
Anthroposophie beschaftigen. So ist Anthroposophie nicht eine
Theorie, sondern ein Lebenstrank, ein Lebenselixier, das sich uns
immer wieder in die Seele giefk, und von dem wir wissen, es macht
die Seele immer starker und immer kraftiger. Und wenn Anthropo-
sophie nicht mehr das sein wird fiir die Menschen, was sie heute ist
durch den Unverstand der aufteren Welt, wenn sie einmal eingreifen
wird in unser ganzes geistiges Leben, dann werden die Menschen se-
hen, wie das Heil, auch des physischen Lebens, des ganzen aufieren
Lebens von der Starkung abhangt, die durch die anthroposophische
Betrachtung, durch das anthroposophische Miterleben gewonnen
werden kann. Es wird die Zeit kommen, wo solche anthroposophi-
schen Versammlungen das wichtigste Starkungsmittel fur die Men-
schen werden konnen, so dafi sie hinausgehen und sagen: Wir ver-
danken das, was wir konnen, unsere Gesundheit, unsere Kraft im
Leben, dem Umstande, dafi wir uns in unserem eigentlichen Wesens-
kern, in unserem Wesenszentrum immer aufs neue starken! - Erst
wenn die Menschen fiihlen: Anthroposophie gibt ihnen durch die
Einzelbetrachtungen dasjenige, was sie bis in den physischen Leib
hinein kraftvoll und gesund macht, erst dann werden sie fiihlen die-
se Mission der Anthroposophie. Und heute sollen diejenigen, wel-
che sich mit der Anthroposophie beschaftigen, sich als Pioniere be-
trachten fur die Anthroposophie als etwas Lebenstarkendes! Dann
wird sie erst das rechte sein und erst den richtigen Angriffspunkt
gewinnen konnen gegen etwas, was heute so vielfach lebenschwa-
chend ist.
Da sei zum Schlufi noch auf eines aufmerksam gemacht. Man hort
heute kein Wort ofter als das Wort «erbliche Belastung». Wie konn-
te heute derjenige, der das Wort «erbliche Belastung» nicht minde-
stens alle Wochen drei- oder viermal im Munde fuhrt, als ein gebilde-
ter Mensch gelten? Ein gebildeter Mensch mufi doch mindestens
wissen, daft die gelehrte Medizin festgestellt hat, was erbliche Bela-
stung im Menschenleben bedeutet! Wer nicht sagen kann, wenn da
oder dort jemand nichts mit sich anzufangen weifi, der Betreffende
sei erblich belastet, der ist kein gebildeter Mensch, sondern irgend
etwas anderes, und unter diesem anderen vielleicht auch ein Anthro-
posoph. Hier beginnt das, wo die Wissenschaft des heutigen Lebens
anfangt, nicht nur theoretisch zu irren, sondern wo sie anfangt, das
Leben zu schadigen. Hier ist die Grenze, wo das Theoretische heran-
kommt an das Moralische, wo es unmoralisch ist, eine falsche Theo-
rie zu haben. Hier hangt die Lebenskraft, die Lebenssicherheit da-
von ab, gerade das Richtige zu wissen. Wer sich starkt und kraftigt
aus einer richtigen geistigen Anschauung in seiner Seele, indem er
sich ein Lebenselixier zufuhrt, wozu wird der imstande sein?
Was er auch vererbt erhalten haben mag, es sind Vererbungen im
physischen Leibe, oder hochstens im Atherleibe. Durch seine richti-
ge Lebensanschauung wird er sich in seinem eigentlichen Wesens-
kern immer starker und starker machen und er wird besiegen, was
erbliche Belastung ist, denn das Geistige, wenn es im richtigen Sinne
vorhanden ist, ist imstande, das Kdrperliche auszugleichen. Wer sich
aber nicht in seinem geistigen Wesenskern starkt, wer da sagt: Das
Geistige ist nur ein Produkt des Korperlichen - , der ist dann, weil
er kein starkes Inneres hat, ausgeliefert den erblichen Belastungen,
bei dem mussen sie schadlich wirken.
Es ist gar kein Wunder, dafi heme dasjenige, was man erbliche Be-
lastung nennt, so furchtbare Wirkungen hat, weil man den Leuten
erst die Macht der erblichen Belastung einredet und ihnen das
nimmt, was dagegen wirkt. Man ztichtet erst den Glauben an die
erbliche Belastung und nimmt dann dem Menschen mit einer geisti-
gen Weltanschauung die beste Kampfmethode gegen die erbliche Be-
lastung. Man erfindet erst die Allmacht der erblichen Belastung, und
dadurch wirkt sie dann. Man hat nicht nur eine falsche Ansicht, die
Lebensfeindliches zur Wirksamkeit bringt, die dem Menschen die
Waffen aus der Hand windet, sondern hier beginnt eine Theorie, die
ganz und gar auf materialistischen Anschauungen fufit. Hier beginnt
eine materialistische Weltanschauung ins Moralische hineinzuspie-
len und sie wirkt hier nicht blofi theoretisch falsch, sondern unmo-
ralisch. Daruber kommt man auch nicht dadurch hinweg, daft man
nur sagt: Diejenigen, welche solche Behauptungen aufstellen, irren
eben. Man braucht nicht zu stark mit denjenigen ins Gericht zu ge-
hen, die solche Theorien aufstellen. Die einzelnen Vertreter der Wis-
senschaft sollen hier niemals getroffen werden, bei denen wird es
verstanden; liebevoll kann es auch verstanden werden, daft sie darin-
nenstecken, daft sie zu solchen Irrtumern kommen mussen. Der eine
kann sich nicht aus einer wissenschaftlichen Tradition herauswin-
den; bei dem anderen kann man es auch verzeihlich finden, denn er
hat Weib und Kind und wiirde sich vielleicht in eine schiefe Lage
bringen, wenn er sich nicht mehr zu den herrschenden Anschau-
ungen bekennen wollte. Aber auf das Ganze als eine Zeiterschei-
nung mufi aufmerksam gemacht werden, weil da die Wissenschaft
anfangt, nicht nur falsche Theorien zu verbreiten, sondern dem
Menschen die lebenfordernden Mittel aus der Hand zu winden, die
als geistige Weltanschauung das Leben mit Kraft versorgen sollen,
und die allein imstande sind, gegemiber der Macht, die sonst den
Menschen iiberwaltigen muft, gegen das Physische aufzukommen.
Dieses Physische ist nur so lange eine uberwaltigende Macht, solange
der Mensch in seinem Geistigen keine Kraft dagegen ausbildet. Bil-
det er diese Kraft aus, dann wird in ihm ein Kampfer gegen alles
Physische erwachsen.
Wir konnen das nicht von heute auf morgen erhoffen. Aber dieje-
nigen, welche die Dinge im wahren Sinne verstehen, sie werden nach
und nach kennenlernen die geisteswissenschaftliche Auffassung in
bezug auf Erscheinungen, denen gegeniiber sich der Mensch zu-
n*achst ohnmachtig zeigt. Was sich da nicht ausgleicht in einem Le-
ben, das gleicht sich aus im Gesamtleben. Und wenn wir das einzel-
ne Leben, wie auch das Leben von Verkorperung zu Verkorperung
betrachten, dann wird das Karmagesetz, richtig verstanden, nicht ein
Gesetz sein, das uns jetzt niederdriicken kann, sondern~ein Gesetz,
das uns Trost und Kraft geben wird und uns immer starker machen
wird. Ein Lebenskraftgesetz ist das Karmagesetz, und als solches sol-
len wir es auffassen. Es handelt sich nicht darum, daft wir einzelne
Abstraktionen wissen, sondern dafi wir die spirituellen Lebenswahr-
heiten im einzelnen im Leben verfolgen, und dafi wir nie miide wer-
den in der Erarbeitung der Geist-Erkenntnis, indem wir uns durch-
dringen mit den Einzelwahrheiten der Geistesforschung.
Wenn Sie sich das vor Augen halten, leben Sie im rechten Sinne
anthroposophisch. Dann wissen Sie, warum wir uns nicht damit be-
gniigen, dieses oder jenes Buch gelesen zu haben, sondern Anthropo-
sophie als eine Herzensangelegenheit betrachten, die nicht aufhort,
uns zu beschaftigen, auf die wir immer wieder gern zuriickkommen,
und von der wir wissen, dafi, je ofter wir auf sie zuriickkommen, sie
uns immer mehr und mehr Lebensbereicherung geben kann.
DRITTER VORTRAG
Berlin, 2. Februar 1910
Durch ein jedes der Evangelien, so konnten wir bei einer unserer
letzten Betrachtungen sagen, wird uns das grofie Geheimnis von
Golgatha von einer besonderen Seite her dargestellt. Wir haben dar-
auf aufmerksam gemacht, dafi das Markus-Evangelium das Geheim-
nis von Golgatha, das Geheimnis des Christus Jesus, darlegt aus den
grofien kosmologischen Zusammenhangen heraus, wahrend das
Matthaus-Evangelium die Herausbildung dieses Geheimnisses dar-
stellt aus einem Volkstum heraus, namlich aus dem althebraischen
Volkstum. Wir haben gesehen, wie nach und nach sich dieses alt-
hebraische Volkstum von Generation zu Generation seit der Zeit
des Abraham entwickeln mufite, um dann als Bliite hervorzubringen
dasjenige Menschenwesen, das in sich bergen konnte die Individuali-
st des Zarathustra oder Zoroaster. Wir haben gesehen, wie alle die
Eigenschaften des althebraischen Volkes, die sich nach und nach in-
tensiver und intensiver gestalten mufiten, indem sie sich von Genera-
tion zu Generation steigerten, auf dem Prinzip der physischen Ver-
erbung beruhten. Damit haben wir den Unterschied gerade der Mis-
sion des althebraischen Volkes von den Missionen anderer Volker
charakterisieren konnen. Die Mission des althebraischen Volkes lag
darin, daft es gewisse Eigenschaften zu vererben hatte, die eben nur
auf dem Wege der physischen Vererbung von den altesten Genera-
tionen aus der abrahamitischen Zeit bis herunter zu dem Jesus sich
steigernd vererben mufiten. Das Matthaus-Evangelium birgt aber
noch viele Geheimnisse, wie ja die anderen Evangelien auch. Und
wenn wir auch im Laufe dieses Winters noch einzelne Ausblicke,
einzelne Perspektiven in die Evangelien eroffnen, so kann doch das
Verstandnis hochstens zunachst angeregt werden. Denn um die
Evangelien vollstandig zu verstehen, ist eine schier nie zu endende
geistige Arbeit notwendig. Heute soil von einer ganz bestimmten
Seite her ein Licht zunachst auf das Matthaus-Evangelium geworfen
und daran angeschlossen werden eine gewisse Nutzanwendung
solcher Lehren, wie sie aus diesen Ausblicken folgen konnen fiir
die heute in der anthroposophischen Geistesstromung stehenden
Seelen.
Wenn wir heute eine Art Ruckblkk tun auf mancherlei von dem,
was wir im Laufe der Jahre gelernt haben, dann werden wir sagen
konnen, daft diese Entwickelung der Menschheit, wie wir sie geistes-
wissenschaftlich dargestellt haben, verschiedene Krisen durchmacht,
an wichtige Punkte kommt, dann eine Weile fortgeht in einer gleich-
mafiigeren Art, dann wiederum an einen wichtigen Punkt kommt
und so weiter. Wir haben ja oft betont, daft ein solcher wichtigster
Punkt in der Erdenentwickelung der Menschheit die Zeit ist, in wel-
cher im Beginne unserer neuzeitlichen Zeitrechnung der Christus-
Impuls gegeben worden ist. Wenn wir von da aus weiter zuriickge-
hen, finden wir, verschiedenes iiberspringend, einen wichtigen
Punkt, auf den wir immer wieder hingedeutet haben. Wenn wir die
atlantische Zeit durchschreiten und in die lemurische Zeit zuriickge-
hen, finden wir dort jenen Zeitpunkt, in dem die erste Anlage zum
menschlichen Ich in die menschliche Wesenheit verpflanzt worden ist.
Wenn so etwas verstanden werden soil, mussen die Worte ganz ge-
nau genommen werden. Man mufi zum Beispiel genau unterschei-
den, was da geschehen ist in der alten lemurischen Zeit, wenn gesagt
wird: Damals ist die erste Anlage zum Ich in die Menschenwesenheit
hineinversenkt worden -, und wenn gesagt wird: In der Zeit des
Mysteriums von Golgatha begann die Periode, das Zeitalter, in dem
sich die Menschheit dieses Ichs vollstandig bewuftt geworden ist. -
Das ist ein bedeutsamer Unterschied: das Ich erst zu haben als Anla-
ge, als etwas, was in dem Menschen arbeitet, oder mit seinem Wissen
hingelenkt zu werden darauf, daft man dieses Ich hat. Diese Dinge
muft man streng voneinander unterscheiden, sonst kommt man
nicht zurecht mit den wirklichen Gesetzen der Entwickelung.
Wir wissen, daft die Hineinverpflanzung des Ich in den Menschen
begnindet ist in der Gesamtentwickelung der Erde. Die Erde ging
durch die Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit hindurch und wurde
dann erst jenes Gebilde, das sie heute ist. Auf dem Saturn wurde die
Anlage zum physischen Leibe gelegt, auf der Sonne zum Atherleibe,
auf dem Mond zum astralischen Leibe, und auf der Erde ist die Anla-
ge zum Ich hinzugekommen. Diese Anlage zum Ich wurde also in-
nerhalb der Erdentwickelung gelegt in der lemurischen Zeit. Nun
aber ging in diesem lemurischen Zeitalter noch etwas anderes vor
sich, dasjenige namlich, was wir immer den luziferischen EinflufS ge-
nannt haben. Es wurde also in jenem Zeitraum der Mensch auf der
einen Seite begabt mit dem Keim zum Ich, der bestimmt war, im
Laufe der folgenden Erdperioden immer weiter und weiter ausgebil-
det zu werden, und gleichzeitig wurde dem astralischen Leib einge-
impft der luziferische EinflufL Durch diesen luziferischen Einfluft
wurde ja das gesamte Menschenwesen verandert, also auch alles am
Menschen, was an Kraften, an Elementen im Atherleibe und im phv-
sischen Leibe war. Der ganze Mensch wurde dadurch in der lemuri-
schen Zeit eben ein anderer, als er geworden ware, wenn es keinen
luziferischen Einflufi gegeben hatte. So haben wir also den Men-
schen in der lemurischen Zeit in zweifacher Weise einen anderen
werdend: Wir haben ihn werdend zu einer Ich-Wesenheit und aufter-
dem werdend zu einem Wesen, das in sich selber birgt das luziferi-
sche Prinzip. Wenn das luziferische Prinzip nicht gekommen ware,
so ware der Ich-Einflufi deshalb doch eingetreten.
Was ist nun am Menschenwesen dadurch geschehen, dafi sich der
luziferische Einflufi in der lemurischen Zeit geltend machte?
Wenn eine solche Sache von dieser oder jener Seite geschildert
wird, so bitte ich Sie recht sehr, nehmen Sie eine solche Schilderurig
niemals so, als ob gleich alles damit gegeben wurde; sondern es kann
immer nur ein Gesichtspunkt herausgegriffen werden. Es ist im Lau-
fe der Jahre schon viel gesagt worden, was alles durch den luziferi-
schen EinflufS im Laufe der Entwickelung geschehen ist. Das alles ge-
hort auch dazu, aber das konnen wir jetzt nicht wiederholen. Heute
werden wir nur einen Gesichtspunkt herauszuheben haben, der uns
eine bestimmte Seite charakterisiert. Dieser Gesichtspunkt besteht
darinnen, dafi der Mensch durch diesen luziferischen Einfluft friiher
zu einer Entwickelungsstufe gekommen ist, als es ihm eigentlich
vorausbestimmt war, als es sozusagen in der weisen Weltenlenkung
fur ihn vorgesehen war. Der Mensch ist durch den luziferischen Ein-
flufi in seine drei von den friiheren Verkorperungen der Erde her-
tibergekommenen Wesensglieder, in seinen astralischen Leib, in sei-
nen Atherleib und in seinen physischen Leib tiefer hineingestiegen,
ist mehr mit ihnen verstrickt worden, ais wenn es keinen luziferi-
schen Einflufi gegeben hatte. Der Mensch ware mit seinem Ich sozu-
sagen den geistigen Welten naher geblieben, hatte sich langer als ein
Glied der geistigen Welt mit seinem Ich gefiihlt, wenn der luziferi-
sche Einflufi nicht bewirkt hatte, dafi dieses Ich tiefer hineingestie-
gen ist in astralischen Leib, Atherleib und physischen Leib. Der
Mensch ist sozusagen tiefer auf die Erde heruntergestiegen in der le-
murischen Zeit durch den luziferischen EinfTufi.
Wir konnen den Zeitpunkt angeben, wann der Mensch - wenn es
keinen luziferischen Einflufi gegeben hatte - so weit auf die Erde
oder in die physische Materie heruntergestiegen ware als er in Wirk-
lichkeit in der lemurischen Zeit heruntergestiegen ist durch den luzi-
ferischen Einflufi: das ware in der Mitte der atlantischen Zeit gewe-
sen. Mit anderen Worten: Ware kein luziferischer Einflufi gekom-
men, so hatte der Mensch mit seinem Herabstieg auf die Erde bis in
die Mitte der atlantischen Zeit warten miissen. Durch den luziferi-
schen Einflufi ist er friiher heruntergestiegen. Dadurch ist er dazu ge-
kommen, ein freies, aus seinen eigenen Impulsen heraus handelndes
Wesen zu werden; denn er hatte sich sonst bis in die Mitte der atlan-
tischen Zeit in vollstandiger Abhangigkeit von der geistigen Welt er-
halten, hatte bis dahin niemals irgendwie selber entscheiden konnen
zwischen dem Guten und dem Bosen, niemals irgendeinen freien Im-
puls entfalten konnen, sondern hatte aus seelischen Instinkten her-
aus gehandelt, das heifit aus Kraften heraus, welche die gottlich-
geistigen Wesenheiten in seine Seele verpflanzt hatten. Aber die luzi-
ferischen Wesenheiten haben ihm die Moglichkeit verschafft, friiher
als sonst zu entscheiden zwischen dem Guten und Bosen, sich nicht
blofi nach den Gesetzen der gottlich-geistigen Weltordnung instink-
tiv lenken zu lassen, sondern selber zu entscheiden, sich selber eine
Art Gesetzmafiigkeit zu machen.
Diese Tatsache wird uns ja in tiefsinniger Weise ausgedriickt in der
Schilderung des Sundenfalles, der in einer wunderbaren Imagination
nichts anderes darstellt als das, was ich jetzt erzahlt habe. Das wird
im Alten Testament dargestellt, indem gesagt wird: Es wurde einge-
pflanzt dem Menschen die lebendige Seele von den gottlich-geistigen
Wesenheiten. - Wenn diese lebendige Seele nun bloft so geblieben
ware, hatte der Mensch jetzt warten miissen, bis spater durch die
gottlich-geistigen Wesenheiten diese lebendige Seele, das heilk das
noch unentwickelte Ich, reif geworden ware, die Entscheidungen zu
treffen. Nun kommen die luziferischen Einfliisse, in der Bibel darge-
stellt durch die Schlange. Dadurch kommt der Mensch dazu, nicht
blofi instinktiv den Einstromungen des Jahve oder der Elohim zu
folgen, sondern selber zu entscheiden iiber Gut und Bose. Aus einem
Wesen, das bis dahin gelenkt und geleitet worden ist von den gott-
lich-geistigen Wesenheiten, ist der Mensch dadurch zu einem Wesen
geworden, das selbst entscheiden konnte. Das wird auch in der Bibel
ganz klar dargestellt, dafi durch die Schlange, das heifit durch die lu-
ziferischen Wesenheiten, die Selbstentscheidung des Menschen her-
beigefuhrt worden ist. Und dann tonen Ihnen, von Gotterseite ge-
sprochen, aus der Bibel die Worte entgegen: Der Mensch ist gewor-
den wie einer von uns! - das heifk, von den Gottern. Oder wenn
wir es radikal ausdriicken wollen: Der Mensch hat sich durch den lu-
ziferischen Einflufi etwas angeeignet, was sich bis dahin nur fur Got-
ter geziemt hat. Gotter haben die Entscheidungen getroffen iiber
Gut und Bose, nicht diejenigen Wesen, die von den Gottern abhan-
gig waren.
Nun ist der Mensch durch den luziferischen Einflufi zu einem
Selbstentscheider, das heilk, zu einem solchen Wesen geworden, das
gottliche Eigenschaften zu friih in sich entwickelte. So ist auf diese
Weise durch den luziferischen Einflufi etwas in die Menschennatur
hineingekommen, was sonst aufbewahrt geblieben ware fur die
menschliche Entwickelung bis in die Mitte der atlantischen Zeit.
Nun konnen Sie sich denken, dafi der Mensch ein ganz anderer ge-
wesen ware, wenn ihm dieser Herunterstieg in die Materie erst in
der Mitte der atlantischen Zeit beschieden ge wesen ware, denn dann
ware seine Seele reifer von diesem Herunterstieg getroffen worden.
Er ware als ein besserer, als ein reiferer Mensch in der Materie ange-
kommen. Er hatte also in alles Physische, Atherische und Astrali-
sche andere Eigenschaften hineingebracht und ware ganz anders fa-
hig geworden, zwischen dem Guten und dem Bosen zu entscheiden.
Dadurch, dafi sich der Mensch von der lemurischen Zeit bis zur
Mitte der atlantischen Zeit zu einem Entscheider zwischen Gut und
Bose gemacht hat, dadurch hat er sich schlechter gemacht, als er
sonst geworden ware, und kam dadurch in einem weniger vollkom-
menen Zustand an. Er hatte die ganze Zeit bis zur Mitte der atlanti-
schen Zeit sonst in einer viel geistigeren Art durchgemacht, so aber
hat er sie materieller durchlaufen. Dadurch wurde aber jetzt be-
wirkt, dafi, wenn dem Menschen das nicht hinzugegeben worden
ware, was ihm die Gotter in der Mitte der atlantischen Zeit zuge-
dacht hatten, er dann vollstandig heruntergef alien ware.
Was ware dem Menschen in der Mitte der atlantischen Zeit gege-
ben worden, wenn er bis dahin wie instinktiv von geistig-gottlichen
Wesenheiten gelenkt und geleitet worden ware?
Es ware ihm das gegeben worden, was ihm, nachdem der luziferi-
sche Einflufi einmal da war, gegeben worden ist durch das Myste-
rium von Golgatha! Der Christus-Impuls ware ihm in der Mitte der
atlantischen Zeit gegeben worden. Jetzt mufke er aber, weil der luzi-
ferische Einflufi da war, auf diesen Christus-Impuls so lange warten,
als die Zeit betrug von dem luziferischen Einflufi bis zur Mitte der
atlantischen Zeit. So viel Zeit fruher, als Luzifer vor der Mitte der
atlantischen Zeit an den Menschen herangetreten ist, so viel Zeit spa-
ter kam der Christus-Impuls. So haben wir dadurch, daft der Mensch
sich seine Gottahnlichkeit fruher erworben hat als es hatte sein sol-
len, eine Verzogerung des Christus-Impulses zu verzeichnen. Denn
der Mensch muEte erst alles durchmachen, was ihm im Erdenkarma
werden mulke fiir das, was in ihn Schlechtes hineingekommen war
durch den luziferischen Einflufi. Das mufite erst sozusagen ausgelit-
ten werden durch die Menschheit. Der Mensch mufite warten, bis
nicht nur der luziferische Einflufi ihn zu einem Entscheider gemacht
hatte zwischen Gut und Bose, sondern bis im Laufe der Erdenent-
wickelung auch alles das eingetreten war, was als Folge dieses luzife-
rischen Einflusses kommen mufke. Das mufke abgewartet werden.
Dann erst konnte der Christus-Impuls auf die Erde herniedersteigen.
Der Mensch sollte nicht etwa nach der weisen Lenkung der Welt
dasjenige ewig entbehren, was ihm durch den luziferischen Einflufi
geworden ist, sondern er hatte es in der Mitte der atlantischen Zeit
erhalten sollen. Werden sollte es ihm also unter alien Umstanden.
Allerdings in der Form, in der es ihm geworden ist durch den luzife-
rischen Einflufi, ware es ihm im anderen Falle nicht geworden.
Durch Luzifer hat der Mensch fur alles, was zusammenhangt mit
geistigen Dingen, nicht nur die freie Entscheidung bekommen, son-
dern auch die Fahigkeit, sich zu enthusiasmieren fur das Gute und
Edle, Weise und Grofie. Wie wir als Menschen heute sind, konnen
wir nicht blofi kalt, niichtern und trocken entscheiden zwischen
Gut und Bose, sondern wir konnen auch fur das Schone, fur das
Edle, Gute und Weise entflammt werden. Das ruhrt davon her, dafi
in unseren astralischen Leib etwas hineingetragen worden ist, was
sonst, wenn es erst in der Mitte der atlantischen Zeit dem Menschen
zugekommen ware, nur in das Ich, in das urteilende Ich hineingetra-
gen worden ware. Also alles, was wir an Gefuhlen, an Idealismus, an
Entflammtsein haben fur das Gute, fur hohe Ideale, das verdanken
wir dem Umstande, dafi in unseren astralischen Leib etwas hineinge-
kommen ist, bevor uns die Gottahnlichkeit in unserm Ich, die Auf-
nahme des Christus in unserm Ich zuteil geworden ist. Das ist das
Wesentliche, dafi diese Gottahnlichkeit, diese Gottgleichheit, diese
Moglichkeit, das Gute in sich selbst zu finden, iiber den Menschen
kommen sollte. Ware der luziferische Einflufi nicht gekommen, so
ware dieser Impuls in der Mitte der atlantischen Zeit gekommen; so
ist er aber jetzt in der Zeit gekommen, in der der Christus Jesus eben
gewirkt hat.
Es ist also durch den Christus-Impuls in den Menschen das Be-
wufitsein eingezogen, dafi er in seinem Ich etwas von gottlicher Sub-
stanz und Wesenheit hat. Das liegt ja all den tieferen Ausspriichen
auch des Neuen Testamentes zugrunde, dafi der Mensch in seine Ich-
Wesenheit das Gottliche aufnehmen kann, und dafi dieses Gottliche
darin wirken und Entscheidungen treffen kann zwischen Gutem
und Bosem. Wir konnen daher sagen, mit der Aufnahme des Chri-
stus-Impulses in das menschliche Innere kam iiber den Menschen die
Moglichkeit, sich zu sagen: Ich bin mir Richtschnur fur die Erkennt-
nisse meines Daseins, fiir die Entscheidungen iiber Gut und Bose.
Wenn wir nun zuriickblicken auf die vorchristlichen Zeiten, miis-
sen wir sagen: Da damals jener Impuls, der den Menschen zum wah-
ren Entscheider macht zwischen Gut und Bose, noch nicht da war,
so war die Entscheidung zwischen Gut und Bose, war das Urteil, die
Erkenntnis iiber das Gute, Schone und Wahre in der vorchristlichen
Zeit notwendig eine mangelhafte und eine solche, die sich nicht ei-
gentlich aus dem Innersten des Menschen heraus ergeben konnte.
Der Mensch hatte auch nicht die Moglichkeit, bevor der Christus-
Impuls gekommen war, aus seinem innersten Wesen heraus iiber das
Gute und das Bose zu entscheiden. Die Entscheidung iiber das richti-
ge Gute, iiber das richtige Wahre, iiber das richtige Schone konnte in
vorchristlichen Zeiten nur dadurch getroffen werden, dafi einzelne
Individualitaten, wie die Bodhisattvas, mit einem Teile ihres Wesens
im Laufe der Zeit hinaufreichten in gottlich-geistige Welten, also die
Entscheidung iiber Gut und Bose nicht eigentlich aus dem Innersten
der Menschennatur holten, sondern aus den gottlichen Welten.
Durch ihren Verkehr mit gottlich-geistigen Wesenheiten bekamen
sie es und flofiten es dann wie suggestiv der Menschenseele ein.
Ohne solche Fiihrer hatten die Menschen in den vorchristlichen Zei-
ten immer nur mangelhafte Entscheidungen treffen konnen iiber
Gut und Bose. Wenn sich diese Fiihrer auf ihr eigenes Herz verlassen
hatten, so hatten sie es auch nicht gekonnt; nur dadurch, dafi sie her-
unterstiegen in die Tiefen der Seele, die dem Menschen noch nicht
beschert waren, dadurch, dafi sie aus ihrer eigenen Ich-Wesenheit
herausgingen in die Reiche der Himmel, bekamen sie die Impulse,
welche die Menschen brauchten, um in der Zeit des mangelhaften
Entscheidens iiber Gut und Bose dennoch das Gute vorbereitend auf
die Erde zu verpflanzen.
So war der Mensch in der vorchristlichen Zeit ein Wesen, welches
sich fiir noch nicht geniigend gereifte Eigenschaften die Gottgleich-
heit angeeignet hatte, fiir etwas, was noch gar nicht dazu geeignet
war, die Gottgleichheit zu haben. Dadurch hat der Mensch seit der
lemurischen Zeit alles, was er getan hat, schlechter, mangelhafter
getan, als er es sonst getan haben wiirde. Vor alien Dingen hat er
durch den luziferischen Einfluft in der vorchristlichen Zeit dasjenige
schlechter und mangelhafter getan, was sich auf ihn selbst bezieht.
Seinen astralischen Leib, Atherleib und physischen Leib, die sonst
geistiger geblieben waren, wenn nicht der luziferische Einflufi
gewirkt hatte, hat er dadurch, dafi das alles so gekommen ist,
schlechter, materieller gestaltet. Dadurch sind aber auch alle Ubel in
das Menschenleben gekommen, die sich im Laufe der Zeit entwickelt
haben. Im Laufe einer langen Zeit haben sie sich entwickelt.
Von der lemurischen Zeit bis zum Mysterium von Golgatha ha-
ben sich im physischen Leibe, im Atherleib und im astralischen Lei-
be Ubel entwickelt. Im astralischen Leibe hat sich ein hochgradiger
Egoismus entwickelt, im Atherleibe haben sich entwickelt die Mog-
lichkeiten des Irrtums, wenn wir irgend etwas beurteilen wollen,
und die Moglichkeit der Luge. Wenn der Mensch unter dem Einflufi
gottlich-geistiger Wesenheiten geblieben ware, instinktiv nach ihren
Impulsen gehandelt hatte, so wiirde er, wenn er sich heute Erkennt-
nisse wiirde erwerben wollen iiber die Umwelt, weder in Irrtum ver-
fallen konnen, noch zur Luge verfiihrt werden konnen; so aber ist
der Hang zur Luge und die Gefahr des Irrtums in die menschliche
Entwickelung hineingekommen. Und weil das Geistige immer der
Verursacher ist des Physischen, und weil der luziferische Einflufi
und dessen Folgen sich von Inkarnation zu Inkarnation immer mehr
hineingefressen haben in den Atherleib, so ist dadurch in den physi-
schen Leib hineingekommen die Moglichkeit zur Erkrankung.
Krankheit ist das Ubel im physischen Leibe, das durch diese Entwik-
kelung gekommen ist.
Aber etwas noch Bedeutsameres ist gekommen. Ware der Mensch
nicht diesen Einfliissen unterlegen, hatte er sie nicht auf sich wirken
lassen, so ware auch nicht das Bewufitsein gekommen, dafi in dem
Moment, wo der physische Leib von uns abfallt, irgend etwas ande-
res geschieht, als eine Verwandlung im Leben: Das Bewufitsein des
Todes ware nicht gekommen. Denn wenn der Mensch weniger tief
in die Materie heruntergestiegen ware und die Faden, die ihn mit
dem Gottlich-Geistigen verkniipfen, "behalten hatte, so wiirde er ge-
wufit haben, dafi mit dem Ablegen der physischen Hiille eben nur
eine andere Form des Daseins beginnt. Er hatte es nicht angesehen
als das Verlieren, als das Ende einer ihm lieb gewordenen Existenz.
Also alle Dinge in der Entwickelung wiirden ein anderes Gesicht be-
kommen haben.
Weil der Mensch nun tiefer hinuntergestiegen ist in die Materie,
hat er sich dadurch freier und unabhangiger gemacht, aber er hat
auch seine Entwickelung zu einer mangelhafteren gemacht, als sie
sonst geworden ware.
Das alles, was im Menschen mangelhaft geworden ist, wird durch
den Christus-Impuls wiederum geheilt. Nur verlange man nicht, dafi
es geheilt werde in einer wesentlich kiirzeren Zeit, als es bewirkt
worden ist, oder gar in einer sehr kurzen Zeit. Die Zeit von der le-
murischen Epoche bis zum Mysterium von Golgatha ist eine sehr
lange. Und langsam und allmahlich, von Verkorperung zu Verkor-
perung wirkend, sind gekommen Egoismus, Irrtum und Luge,
Krankheit und Todesgefuhl. Dadurch, dafi der Christus-Impuls in
der Menschheit wirkt, werden in einer aufsteigenden Entwickelung
des Menschen diese Eigenschaften alle wiederum zuriickverwandelt.
Der Mensch wird sozusagen mit seinen Fahigkeiten, die er sich un-
ten erworben hat, zuruckgefuhrt in die geistige Welt. Es wird sogar
schneller geschehen, als der Herunterstieg vor sich ging. Aber man
verlange nicht, dafi der Mensch in ein oder zwei Inkarnationen
durch das, was er durch den Christus-Impuls aufnehmen kann, im-
stande sein wird, die Selbstsucht zu besiegen, sich in seinem Ather-
leib so zu heilen, daft keine Gefahr fiir Luge und Irrtum mehr da wa-
ren, noch dafi er gar bis in seinen physischen Leib hinein gesundend
wirken konne. Das mufi langsam und allmahlich geschehen. Aber es
geschieht. Gerade so, wie durch den luziferischen Einflufi der
Mensch heruntergefuhrt worden ist zu all den geschilderten Eigen-
schaften, ebenso wird er wieder heraufgefuhrt werden durch den
Christus-Impuls: Es wird die Selbstsucht in Selbstlosigkeit umge-
wandelt werden, die Lugenhaftigkeit wird zur Wahrhaftigkeit, die
Gefahr des Irrtums wird zur Treffsicherheit und zur Wahrheit des
Urteils werden. Krankheit wird zu einer Unterlage fur eine um so
grofiere Gesundheit werden. Jene Krankheiten, die wir iiberwunden
haben, werden die Keime zu einer hdheren Gesundheit sein. Und
wenn der Tod allmahlich so begriffen wird, daft der Tod auf Golga-
tha in unserer Seele selber als das Vorbild des Todes wirkt, dann
wird der Tod seinen Stachel verloren haben. Der Mensch wird wis-
sen, warum er von Zeit zu Zeit seine physische Hiille ablegen mufi,
um immer hoher zu dringen im Laufe der Verkorperungen. Was
aber insbesondere durch den Christus-Impuls eingetreten ist, das ist,
daft der Anstoft gegeben worden ist, etwas gut zu machen, was insbe-
sondere die menschliche Erkenntnis und die menschliche Beobach-
tung, das Wissen des Menschen von der Welt betrifft.
Wir haben gesagt, daft der Mensch mehr in die Materie hineinver-
strickt worden ist, sich in seinen drei Leibern mangelhafter gemacht
hat, als er geworden ware, wenn kein luziferischer Einfluft gekom-
men ware. Dadurch ist der Mensch erfaftt worden von einem An-
trieb, immer tiefer hinunterzusteigen in das materielle Dasein, im-
mer griindlicher hineinzusausen in das blofte Materielle. Das ist ihm
insbesondere mit seiner Erkenntnis passiert. Aber auch das ist lang-
sam und allmahlich gekommen. Nicht gleich, als der luziferische
Einfluft gewirkt hat, ist der Mensch sozusagen so tief heruntergesun-
ken, daft er nun alle Tore nach der geistigen Welt hinter sich zuge-
schlossen gehabt hatte. Der Mensch war noch lange in Verbindung
mit der geistigen Welt, aus der er herausgewachsen ist, und in der er
geblieben ware mit seinem ganzen Wesen, wenn der luziferische Ein-
fluft nicht gekommen ware. Noch lange ist der Mensch dieser geisti-
gen Welt teilhaftig geblieben, er fuhlte noch lange, wie in seine feine-
ren geistigen Instinkte hineinfuhrten die Faden der gottlich-geistigen
Welt. Er handelte noch lange Zeit so, daft der Impuls nicht ein bloft
menschlicher war, sondern ein solcher, wie wenn die Gotter hinter
ihm gewirkt hatten. Das war besonders in den altesten Zeiten so.
Erst langsam wurde der Mensch hineingestofien in das Materielle,
und damit verlor er dann auch das Bewufitsein des Gottlichen.
Diejenigen Geistesstromungen und Weltanschauungen in der
Menschheit, die ein Wissen von diesen Dingen gehabt haben, haben
daher immer darauf hingedeutet: Es hat ein altes Zeitalter gegeben,
da war der Mensch zwar durch den luziferischen Einflufi schon et-
was heruntergestofien ins materielle Dasein, aber doch noch nicht so
weit, als dafi nicht dieser gottliche Einflufi noch stark in ihm gewirkt
hatte. Dieses Zeitalter nannte man in alten Zeiten der Menschheits-
entwickelung das goldene Zeitalter. Das ist nicht irgendein Phanta-
sieprodukt, sondern der Ausdruck «goldenes Zeitalter» ist einfach
ein Ausdruck, welchen diejenigen Bekenner gebraucht haben, die in
alteren Zeiten noch eine Ahnung davon hatten, dafi es so etwas wie
eine Urzeit der Menschheit, wie sie eben geschildert wurde, einmal
gegeben hat. Dieses goldene Zeitalter, das man mit einem Ausdruck
der orientalischen Philosophic als «Krita Yuga» bezeichnet, hat ver-
haltnismaftig von all den Zeitaltern, die wir noch charakterisieren
werden, am langsten gedauert.
Nach diesem goldenen Zeitalter kommt dann das sogenannte sil-
berne Zeitalter. Da war der Mensch schon mehr heruntergestofien
in die physische Welt. Aber alles geschah langsam und allmahlich. Es
waren auch jetzt noch nicht die Tore gegeniiber der geistigen Welt
ganz zugeschlossen. Der Mensch hatte noch starke Momente, in de-
nen er wie in einem traumhaften Hellsehen die Gotter treibend hin-
ter seinen Instinkten merkte. In diesem silbernen Zeitalter konnte
man den Menschen zwar nicht mehr einen Genossen der Gotter
nennen, aber er merkte noch, daft Gotter hinter ihm standen. Dieses
Zeitalter wird mit einem Ausdruck der orientalischen Philosophie
auch «Treta Yuga» genannt.
Dann kommt ein Zeitalter, das geht hinein bis in unser nachatlan-
tisches Zeitalter; es erstreckt seine letzten Auslaufer bis in histori-
sche Zeiten hinein, wo es noch immer Menschen gegeben hat, mit al-
tem traumhaftem, dammerhaftem Hellsehen begabt. Aber das Be-
wuiksein von der geistigen Welt, aus der der Mensch herausgewach-
sen war, war in diesem Zeitalter nur noch wie eine Art Erinnerung
vorhanden, die ge blieb en war aus fruheren Inkarnationen. Es war
so, wie wenn Sie sich heute Ihre Jugend, Ihr Kindesalter und Ihr jet-
ziges Lebensalter denken. In unserer Kindheit haben wir die Kind-
heitserlebnisse unmittelbar erlebt, so haben die Menschen noch im
Treta Yuga unmittelbar die Impulse der gottlich-geistigen Welt er-
lebt. In dem Zeitalter, das dann darauf folgte, das man auch das eher-
ne Zeitalter nennt, da war nur mehr etwas wie eine Erinnerung dar-
an vorhanden. Man konnte es vergleichen mit der Art, wie der er-
wachsene Mensch seine Kindheit betrachtet. Denn Sie werden sagen:
Ich habe meine Kindheit erlebt, es ist kein Traum! So war es in dem
dritten Zeitalter, da wufken die Menschen: Wir haben in fruheren
Zeiten den Zusammenhang mit dem Gottlichen erlebt, aber jetzt ist
er nur noch wie eine Erinnerung da. - Ich habe ausfuhrlich gezeigt,
wie in der altindischen Kultur die Erinnerung an die atlantische Zeit
nachwirkte; daher konnten die heiligen Rishis, weil diese Erinne-
rung noch nachwirkte, auch gerade damals ihre grofien gottlichen
Lehren verkiindigen. Dieses eherne Zeitalter wird in der orientali-
schen Philosophic als «Dvapara Yuga» bezeichnet.
Danach kommt ein Zeitalter, in dem die Erinnerung an die gott-
lich-geistige Welt verlorengeht, wo der Mensch mit seinem Erken-
nen und Anschauen ganz herausgesetzt wird in die physische Welt.
Dieses Zeitalter beginnt etwa mit dem Jahre 3101 vor unserer Zeit-
rechnung, vor der Geburt des Christus Jesus, und man nennt es auch
mit einem Ausdruck der orientalischen Philosophic «Kali Yuga», das
finstere Zeitalter, weil da der Mensch alle Zusammenhange mit der
geistigen Welt verloren hat und vollstandig zusammengewachsen ist
mit der physischen Welt.
Ich bemerke ausdriicklich, dafi ich diese Ausdriicke jetzt ge-
brauche fiir kleinere Zeitabschnitte; man kann sie aber auch aus-
dehnen iiber grofiere Zeitraume. Wir sprechen also von jener Auf-
fassung der Zeitalter, wie sie zunachst den kleineren Zeitaltern ent-
sprechen, und lassen Kali Yuga beginnen, wie es die indische Philo-
sophic lehrt, mit dem Jahre 3101 vor unserer Zeitrechnung. Da be-
reitet sich jener Zeitraum vor, in welchem die Menschen angewie-
sen werden, nur dasjenige zu sehen, was wie ein Schleier, wie eine
Hiille die gottlich-geistige Welt verbirgt, wo sie nur das aufiere
Physisch-Sinnliche wahrnehmen. Zwar sind im Anfange des Kali
Yuga noch viele Menschen vorhanden, die hineinschauen oder sich
erinnern konnen an die gottlich-geistige Welt, aber fur die normale
Menschheit beginnt jetzt die Zeit, wo sie nur noch Physisch-Sinnli-
ches wahrnimmt.
Das war das Heruntersteigen der Menschen bis zu einem Kali
Yuga. Das war die Zeit des tiefsten Herunterstieges. Da hinein mufi-
te der Impuls fallen, wieder hinaufzusteigen. Daher kommt der Im-
puls wieder hinaufzusteigen, der Christus-Impuls, im Kali Yuga, im
finsteren Zeitalter.
Dieser Christus-Impuls war vorbereitet worden durch die Jahve-
oder Jehova-Religion. Denn durch die Jahve-Religion war der
Mensch aufmerksam gemacht worden auf das Mangelhafte seiner
friiheren Entscheidungen. Wahrend des Zeitraumes von der alten le-
murischen Zeit bis zur Yerkiindigung auf dem Sinai haben wir ja je-
nes Zeitalter, wo der Mensch zwar zu einem Selbstentscheider wird
iiber Gut und Bose, wo er auf der anderen Seite aber auch in Irrtum
verfallt iiber das Bose und Gute und immer mehr dasjenige auf die
Erde bringt, was in der Bibel die Siinde genannt wird. Da frifk sich
die Siinde ein in das Erdenleben. Der Mensch hat sich die Gott-
gleichheit angeeignet, aber er hat sie fur Eigenschaften in Anspruch
genommen, die durchaus nicht reif waren fur die Gottgleichheit.
Was mufke nun geschehen?
Zunachst mulke dem Menschen gezeigt werden, was die Gottheit
von ihm verlangt, wenn er ein selbstbewufkes Ich werden sollte.
Und das wurde ihm gezeigt durch die Verkundigung auf dem Sinai,
durch die Verkundigung der Zehn Gebote. Da horten die Menschen
durch Moses: Was du bisher entwickelt hast iiber Gut und Bose, das
ist mangelhaft. Ich zeige dir, wie die Gesetze lauten wiirden, wenn
du nicht heruntergestiegen warest und fur deine mangelhaften Ei-
genschaften die Entscheidung iiber Gut und Bose in Anspruch ge-
nommen hattest! - So steht das Gesetz vom Sinai, der Dekalog, zu
dem, was der Mensch geworden war, so dafi ihm heruntertont aus
den geistigen Welten, was das Richtige ware gegenuber dem, was er
als mangelhaft ausgebildet hat. Als ein ehernes Gesetz stehen die
Zehn Gebote da, als eine Fackel, welche dem Menschen anzeigt alles,
was er nicht geworden ist. Er soli sich diesem Gesetz unterwerfen
mit all dem, was er geworden ist. Der Mensch konnte sich diese
Zehn Gebote zunachst nicht selbst geben, weil er in seinem Ent-
scheiden, in seiner eigenen Gesetzgebung mangelhaft geworden war.
Daher muflten ihm die Zehn Gebote durch einen Inspirierten, durch
Moses gegeben werden, das heifit durch gottliche Eingebung von
oben. Aber sie waren so gegeben, dafi sie alle auf das Ich gerichtet
waren. Sie sagten dem Menschen, wie sich ein Ich benehmen mufi,
wenn es das Ziel der Menschheit erlangen soil.
In dem Vortrag iiber die Zehn Gebote des Moses, am 16. Novem-
ber 1908, ist das im einzelnen ausgefuhrt worden. Da ist gezeigt wor-
den, wie das Ich zunachst sich benehmen soli zu den geistigen Wel-
ten, in den ersten drei Geboten, wie es sich verhalten soil zu den
Mitmenschen in bezug auf seine Taten und Handlungen, in den
nachsten Geboten und wie es sich benehmen soil in bezug auf seine
Empfindungen und Gefiihle, in den letzten Geboten. Die Erzie-
hung, die Kultur des Ich wird befohlen in den Zehn Geboten. Das
war die Vorbereitung dafur, dafi das Ich in seinem Innersten lernen
sollte, sich selber den Impuls zu geben, nachdem es in das Kali Yuga,
bis in das finstere Zeitalter hinuntergestiegen ist. Es sollte den Men-
schen zunachst vorgefuhrt werden ein Gesetz von oben. Was das
Gesetz des eigenen Ich werden sollte, das konnte es aber nur werden,
wenn das Ich das grofie Vorbild von Golgatha in sich aufnahm,
wenn das Ich sich sagte: Wenn ich in meine Seele ein solches Denken
aufnehme, wie das Wesen gedacht hat, das sich auf Golgatha geopfert
hat, wenn ich ein solches Fiihlen in mich aufnehme, wie das Wesen
gefiihlt hat, das sich auf Golgatha geopfert hat, wenn ich ein solches
Wollen in mich aufnehme, wie das Wesen gewollt hat, das sich auf
Golgatha opferte, dann wird mein Wesen in sich selber die Entschei-
dung finden, wird die Gottgleichheit immer mehr und mehr entwik-
keln, wird nicht mehr blofi zu folgen haben einem aufieren Gesetz,
den Zehn Geboten, sondern einem inneren Impuls, seinem eigenen
Gesetz!
So hat Moses zunachst das Gesetz hingestellt vor den Menschen,
der Christus aber das Vorbild und die Kraft, welche die Seele aufneh-
men sollte, um sich zu entwickeln. Daher mufite alles bis zur Inner-
lichkeit vertieft werden durch den Christus Jesus, alles bis in die tief-
ste Seek hineingetragen werden, was an geistigen Impulsen da war,
bis in das Ich selber. Das konnte nur geschehen, wenn folgendes ge-
dacht wurde, wenn der Christus Jesus folgendes als einen Impuls
ausstreute.
Der Mensch ist heruntergestiegen bis in das finstere Zeitalter, bis
in das Kali Yuga. Vor diesem finsteren Zeitalter haben die Menschen
hineingesehen im dumpfen, dammerhaften Hellsehen in die geistige
Welt. Da haben sie sich nicht bloft der Instrumente des physischen
Leibes bedienen konnen, sondern indem sie durch ihre Augen, Oh-
ren und so weiter die physische Welt beobachtet haben, ist ihnen
iiberall ein Geistiges erschienen: um Blumen, Pflanzen, Steine und
so weiter. Diese Menschen waren reich in bezug auf ihre Beobach-
tung an Geist. Der Geist wurde ihnen in alten Zeiten geschenkt.
Jetzt, in dem finsteren Zeitalter, sind sie Bettler geworden in bezug
auf den Geist, denn der Geist wurde ihnen jetzt nicht mehr ge-
schenkt. Arm sind sie geworden an Geist. Immer mehr und mehr
war das Kali Yuga herangekommen, wo die Menschen sich sagen
mufiten: In den alten Zeiten war es anders; da wurde der Geist den
Menschen noch geschenkt, da konnten sie hinaufschauen in eine
geistige Welt, da waren sie reich an Geist, da waren ihnen die
Reiche der Himmel zuganglich. Jetzt aber sind die Menschen her-
untergedrangt worden in die physische Welt. Geschlossen haben
sich die Tore zu der geistigen Welt vor den menschlichen Sinnen,
und der physische Leib eroffnet keine Aussicht in die Reiche der
Himmel.
Aber der Christus konnte sagen: Ergreift das Ich da, wo ihr es jetzt
ergreifen sollt, dann sind die Reiche der Himmel nahe herbeigekom-
men. In eurem Ich werden sie aufgehen! Wenn auch eure Augen
euch hinter dem aufieren sinnlichen Licht verschliefien das geistige
Licht, wenn auch eure Ohren euch hinter dem physischen Ton den
geistigen verschlieften, wenn ihr zu dem Christus selber euch erhebt,
werdet ihr in euch finden die Reiche der Himmel! - Unselig waren
die, welche durch das finstere Zeitalter arm geworden waren, Bettler
geworden waren um Geist. Selig konnten sie jetzt werden, nachdem
der Impuls gegeben war, dafi bis in das menschliche Ich hinein der
Christus dringen konnte, diejenige Wesenheit, welche ihnen Kunde
geben konnte von dem Geistigen, von den Reichen der Himmel. So
ist in bezug auf die Verarmung des Menschen an Geist die hochste
christliche Verkiindigung die: Selig konnen von jetzt ab sein diejeni-
gen, die da Bettler sind um Geist, die nicht mehr den Geist geschenkt
bekommen durch eine alte Anschauung; selig konnen sie doch wer-
den von jetzt ab, wenn sie den Christus-Impuls aufnehmen; dann
konnen ihnen selber werden durch die Entwickelung ihres Ich die
Reiche der Himmel!
Gehen wir zum Atherleib, der der Bildner des physischen Leibes
ist. Was ist in ihn hineingekommen? - Im physischen Leibe driickt
sich die Krankheit nur aus. Das Leiden selbst ist zuerst im Atherlei-
be, und das Leid im Atherleibe driickt sich in einer spateren Inkarna-
tion im physischen Leibe in der Krankheit aus. Jetzt aber ist etwas in
die Welt gekommen, so hatte der Christus Jesus zu sagen, wodurch
im Innern ein Impuls aufgehen kann, um nach und nach hinwegzu-
raumen das Leid aus dem Atherleib. Selig konnen jetzt, wenn sie den
Christus-Impuls in sich aufnehmen, diejenigen werden, die das Leid
in ihrem Atherleibe verankert haben; denn es ist etwas in ihnen, wo-
durch sie das uber das Leid Hinausfiihrende, den Innentrost finden,
den inneren Paraklet, den inneren Troster finden!
Und was war durch den luziferischen EinflufS aus dem astralischen
Leib geworden? Er war mangelhafter geworden, als er friiher war.
Er hat die Moglichkeit, die wir als eine gute Eigenschaft haben schil-
dern konnen, empfangen, fur das Gute und Grofie sich zu entflam-
men, fur die hehren Giiter des Wahren, Schonen und Guten Enthu-
siasmus zu haben. Aber er hat dafiir auch das andere in Kauf nehmen
miissen: fur die Giiter der Erde in Sympathie oder Antipathie in
weitgehendstem Mafie sich zu entflammen. Wer den Christus-
Impuls aufnimmt, der wird lernen, dieses was seinen physischen
Leib in Emotion versetzt gegeniiber den Giitern der Erde, den astra-
lischen Leib, zu sanftigen, ihn unter die Gewalt des Geistigen zu stel-
len, und dadurch wird er gliicklich oder selig werden. Selig wird der
werden, der seinen astralischen Leib gleichmiitig macht in bezug auf
die Erdendinge; dadurch aber werden sie ihm gerade zuf alien. Denn
wenn er in Emotion, in Sympathie oder Antipathie fur die Erden-
dinge entflammt wird, dann verscherzt er sich gerade das, was sie
ihm werden konnen. Wenn der astralische Leib aber unter die
Gewalt des Geistigen kommt, wenn man gleichmiitig wird gegen-
iiber den Erdendingen, dann wird einem das Erdenreich zum Lose
gegeben!
Steigen wir auf zu dem, was im astralischen Leib als Empfindungs-
seele wirkt. Darinnen haben wir noch ein in dumpfer Weise walten-
des Ich, das noch nicht so recht herausgekommen ist, und das daher
noch in Leidenschaften den schlimmsten Egoismus entfaltet. So lan-
ge das Ich noch so recht in der Empfindungsseele drinnensteckt, ent-
faltet es den selbstsiichtigsten Egoismus. Es ist dann des Wunsches
bar, den anderen Menschen dasselbe zukommen zu lassen, was ihm
selber zukommt. Der Egoismus triibt den Sinn fur Gerechtigkeit,
weil das Ich alles selber haben will. Wenn aber jetzt das Ich sich in
die Nachfolge des Christus-Impulses stellt, dann wird es zu einem
solchen, das da diirstet nach Gerechtigkeit unter alien Wesen, die um
uns herum sind. Selig werden diejenigen sein, welche da dursten und
hungern nach dem Gerechtigkeitsgefiihl in ihrer Empfindungsseele,
denn sie werden gesattigt werden. Sie werden imstande sein, auf der
Erde und auf der ganzen Welt solche Zustande herbeizufiihren, die
in dem richtigen neuen Geist aus den Tiefen der Seele heraus solchen
Zustanden der Gerechtigkeit entsprechen!
Steigen wir weiter herauf zur Verstandes- oder Gemutsseele. Sie
ist dasjenige Glied, welches das Geltenlassen von Mensch neben
Mensch noch mehr bewirkt, und es nicht nur als ein Gerechtigkeits-
gefiihl bewirkt wie die Empfindungsseele, sondern als ein Mitgefiihl,
als ein wirkliches Mitfiihlen von Leid und Lust des anderen. Derjeni-
ge, der den Christus-Impuls aufnimmt, erlangt ein Gefiihl nicht nur
fur das, was er fiihlt, sondern auch fur das, was das andere Ich fiihlt;
er taucht unter in das andere Ich und wird dadurch beseligt in seiner
Verstandes- oder Gemutsseele. Beseligt ist der, der da Mitgefiihl ent-
wickelt, denn nur dadurch, daft er sich in die Seele des anderen hin-
einfiihlt, regt er auch die andere Seele an, sich in ihn hineinzufuhlen.
Er wird Mitgefiihl bei der anderen Seele erlangen, wenn er auch Mit-
gefiihl ausstrahlt. Selig sind die Mitfuhlenden, denn mit ihnen wird
gefiihlt werden!
Damit sehen Sie schon, wie wir jetzt, nachdem wir einige Zeit vor-
wartsgeschritten sind in der Betrachtung dieser Zusammenhange, in
ganz anderer Weise imstande sind, die Worte des Matthaus-Evange-
liums, die gewohnlich in der «Bergpredigt» zusammengefafit wer-
den, aus der Tiefe der menschlichen Natur und Wesenheit heraus zu
verstehen. Jeder Satz der Bergpredigt bezieht sich auf eines der neun
Glieder des Menschen. Das soil das nachste Mai noch weiter ausge-
fuhrt werden. Die Bergpredigt soil durchsichtig vor unser geistiges
Auge treten als diejenige Tat des Christus Jesus, durch die er das, was
im alten Gesetz des Moses enthalten war, ganz verinnerlicht hat,
ganz zu einem inneren Impuls gemacht hat, wodurch das Ich des
Menschen wirksam wird, wie es wirksam werden mufi fur alle neun
Wesensglieder des Menschen. Denn wenn das Ich den Christus-Im-
puls aufnimmt, wirkt es auf alle neun Wesensglieder des Menschen.
So sehen wir, wie tief wahr das ist, was hier schon einmal angedeutet
worden ist, dafi der Christus im Kali Yuga das Ich des Menschen fa-
hig gemacht hat, in der physischen Welt etwas zu finden, was den
Menschen hinauffuhrt in die geistige Welt, in die Reiche der Him-
mel. Das Ich des Menschen hat der Christus zu einem Anteilnehmer
an der geistigen Welt gemacht.
Auf dem alten Saturn war der physische Leib unmittelbar aus der
geistigen Welt herausgenommen. Er war noch ganz in der geistigen
Welt drinnen, weil damals der physische Leib geistiger noch war
und nicht ein Bewufitsein hatte, so dafi er sich hatte trennen konnen
von den geistigen Welten. Auf der Sonne war der Atherleib, auf dem
Monde der astralische Leib dazugekommen, und auf der Erde erst
war die Moglichkeit gegeben, durch die Ich-Entwickelung sich los-
zutrennen von dem Mutterschofi des Gottlich-Geistigen in der Welt.
Und die Folge war, dafi dieses Ich wieder zuruckgefuhrt werden
mufite, dafi der Gott heruntersteigen mufke bis zum physischen
Plan und auf dem physischen Plan dem Menschen zeigen mufite,
wie er den Weg zu den Reichen der Himmel wieder zuriickfinden
kann.
Was durch den Christus-Impuls geschah, war somit ein wichtigstes
Ereignis. Fragen Sie aber jetzt einmal: Haben es alle Menschen dazu-
mal gewulk, die zu der Zeit gelebt haben, als der Christus Jesus auf
Erden wirkte, daft da ein so wichtiges Ereignis vorgeht? Bedenken
Sie, dafi der grofie Geschichtsschreiber Tacitus von den Christen wie
von einer fast unbekannten Sekte spricht! Hundert Jahre spater er-
zahlt er von den Christen nur, es kame in einer Seitenstrafie in Rom
eine Sekte auf, die von einem gewissen Jesus angefiihrt wurde, die
treibe da ihr Wesen. Es glaubten ja lange Zeit nach dem Christus-
Ereignis noch viele Menschen in Rom, dafi der Jesus ihr Zeitgenosse
sei, als wenn er jetzt eben aufgetreten ware. Kurz, es kann Wichtiges
vorgehen in der Menschheitsentwickelung, ohne dafi die Zeitgenos-
sen etwas davon merken. Wichtigstes konnte sogar voriibergehen,
wenn die Menschen nicht geneigt waren, sich Verstandnis dafiir zu
verschaffen! Dann aber wurde die Menschheit dieses Wichtigste
nicht erleben, wurde in bezug auf dieses Wichtigste verdorren und
veroden. - «Andert den Sinn, die Reiche der Himmel sind nahe her-
beigekommen!» so war die Verkiindigung des Taufers Johannes und
des Christus Jesus selber. Damit wiesen sie hin fur die, welche Oh-
ren hatten zu horen, daft ein Wichtigstes geschahe. Daft man von
einem Wichtigsten in der Welt nichts weifi, das ist kein Beweis da-
fiir, daft es nicht da ist.
Diejenigen, welche heute die Zeichen der Zeit zu deuten haben,
die wissen, was heute geschieht, die rmissen auf ein Ereignis - wenn
auch nicht von schlagendster Bedeutung, so aber doch auf ein wich-
tiges Ereignis - hinweisen. Wahr ist es, es entwickelt sich etwas von
unendlicher Bedeutung gerade in unserer Zeit! Und wahrend dazu-
mal auf den Christus hingewiesen wurde von dem Johannes, und
wenn von ihm selber hingewiesen wurde auf das Herankommen der
Reiche der Himmel, auf das Ich, so mufi heute hingewiesen werden
auf ein anderes wichtiges Ereignis.
Der Christus ist ins Fleisch nur einmal heruntergestiegen auf die
Erde. Im Fleische hat er die Zeit im Beginne unserer Zeitrechnung
auf der Erde verweilt. Im Fleische werden die Menschen den Chri-
stus als physisch verkorperten Menschen nach der weisen Fiihrung
unserer Weltenentwickelung nicht wiederum sehen, aber audi nicht
wieder zu sehen brauchen. Denn im Fleische wird der Christus nicht
wiederkommen. Dennoch mussen wir sprechen von einer neuen Be-
ziehung der Menschen zu dem Christus. Warum? Weil dasjenige
Zeitalter, das wir das finstere nennen, das Kali Yuga, abgelaufen ist
gerade in unserer Zeit mit dem Ende des 19. Jahrhunderts, und weil
mit dem Beginne des 20. Jahrhunderts ein neues Zeitalter beginnt,
wo sich neue Fahigkeiten der Menschen vorbereiten, jene Fahigkei-
ten, welche in dem finsteren Zeitalter verlorengegangen sind. Lang-
sam und allmahlich bereiten sich neue Fahigkeiten vor. Bis zu dem
Grade werden sich neue Fahigkeiten vorbereiten, dafi einzelne Men-
schen da sein werden, welche dieselben als eine natiirliche Anlage ha-
ben werden. Diese Fahigkeiten werden sich bei einer Anzahl von
Menschen besonders zeigen zwischen den Jahren 1930 und 1940,
und durch diese neuen Fahigkeiten werden neue Beziehungen zu
dem Christus bei einer Anzahl von Menschen eintreten.
Damit ist auf ein Wichtigstes in der Menschheitsentwickelung hin-
gedeutet. Und Geisteswissenschaft ist dazu da, den Menschen das
Verstandnis zu eroffnen fur diese neuen Fahigkeiten, die sich in der
Menschenwelt zeigen werden. Nicht weil einzelne Menschen Lust
und Sympathie haben, die Ergebnisse der Geistesforschung zu ver-
breiten, gibt es eine Geisteswissenschaft in der Welt, sondern weil
Geist-Erkenntnis notwendig ist, wenn die Menschen verstehen wol-
len, was in der ersten Halfte unseres Jahrhunderts geschieht. Denn
nur durch das, was eine Geisteswissenschaft dem Menschen geben
kann, wird man fahig werden zu begreifen, was in der ersten Halfte
unseres Jahrhunderts geschehen wird. Und wenn man fahig werden
wird, dasjenige im Geiste zu erkennen, was dann geschehen wird,
dann wird man auch imstande sein, die Ereignisse nicht zu verwech-
seln mit ihren irrtumlichen Darstellungen. Denn dadurch, dafi der
Mater ialismus sich immer mehr verbreitet, verbreitet er sich auch in
die geistigen Weltanschauungen hinein, und da wirkt er besonders
schlimm. Da konnte er dazu fuhren, dafi die Menschen nicht verste-
hen werden dasjenige, was im Geiste erfafit werden soil, auch wirk-
lich im Geiste zu erfassen, dafi sie es suchen werden in der materiel-
len Welt. Und weil eine neue Beziehung zu dem Christus eintreten
soil in der ersten Halfte unseres Jahrhunderts, so wird in den nach-
sten Jahrzehnten, bis das Ereignis geschieht, immer wieder betont
werden, dafi falsche Messiasse, falsche Christusse sich finden wer-
den, die pochen werden auf diejenigen, welche auf den Gebieten der
Geisteswissenschaft nur Materialisten werden konnen, und die sich
eine neue Beziehung zu dem Christus nur so vorstellen konnen, dafi
sie ihn im Fleische vor sich haben werden. Eine Anzahl falscher
Messiasse wird das benutzen und sagen: Der Christus ist im Fleische
wieder da!
Die Beziehungen aber, welche rein durch die menschlichen Fahig-
keiten zu gewinnen sein werden fur die erste Halfte unseres Jahrhun-
derts, die hat die anthroposophische Weisheit vorzubereiten. Damit
wachst die Verantwortlichkeit des anthroposophischen Strebens ins
Ungeheure, indem die Geisteswissenschaft auf ein Ereignis vorberei-
tet, das kommen wird, und das entweder, wenn die Geisteswissen-
schaft sich in die Menschenseelen einlebt, verstanden werden wird
und dann fur die weitere Menschheitsentwickelung fruchtbar wer-
den wird, oder das ohne Verstandnis an der Menschheit vorbeigehen
wird, wenn sich die Menschen weigern werden, das Instrument an-
zunehmen, durch welches dieses Ereignis wird begriffen werden
konnen: das Instrument der Geisteswissenschaft. Wenn aber die
Menschen die Geisteswissenschaft so weit zuriickweisen wiirden,
dafi nichts bleiben wiirde von ihr, dann wiirden sie auch nicht wis-
sen, daft dieses Ereignis da ist, oder wiirden es falsch deuten. Die
Frucht dieser Ereignisse wiirde fur die Menschenzukunft verlorenge-
hen und die Menschheit wiirde dadurch in ungeheures Elend ge-
stiirzt werden.
Damit ist hingedeutet auf eine neue Beziehung der Menschen zu
dem Christus als auf etwas, was dem Christus in einer verhaltnis-
mafiig kurzen Zeit in der Menschenseele entgegenkeimt.
VIERTER VORTRAG
Berlin, 8. Februar 1910
Der Gegenstand unserer heutigen Betrachtung ist ja schon das letzte
Mai angedeutet worden. Wir haben heute noch einmal hinzuweisen
auf jene bedeutsame Urkunde, welche in den Satzen der Bergpredigt
enthalten ist, um dann von dieser Urkunde aus auf unsere Gegen-
wart und auf die nachste Zukunft der Menschheit einen Blick zu
werfen.
Die Bergpredigt des Matthaus-Evangeliums kann nur verstanden
werden, wenn man sie in ihrem ganzen Geiste erfafit und sie begreift
aus dem Geiste der Entwickelung der ganzen Menschheit. Wenn wir
noch einmal kurz iiberblicken, was schon das letzte Mai vor unsere
Seele getreten ist, dafi das alte dammerhafte Hellsehen des Menschen
allmahlich zuriickgegangen ist, dafi die menschlichen Fahigkeiten,
die menschliche Erkenntnis immer mehr und mehr sich beschran-
ken mufke auf den physischen Plan, und dafi aus diesem Grunde der
Zusammenhang des Menschen mit den geistigen Welten aus einem
Ereignis des physischen Planes heraus begnindet werden mufke,
wenn wir das alles zusammenhalten, werden wir verstehen, dafi je-
nes gottlich-geistige Wesen, das wir als das hohe Sonnenwesen, als
den Christus charakterisiert haben, in einer Zeit, als die Menschen in
ihrer Wahrnehmung auf den physischen Plan beschrankt waren,
sich eben in einem physischen Leib verkorpern mufke. Das geschah
aus dem Grunde, damit man erzahlen konnte sozusagen das Wesent-
lichste des Lebens dieser gottlich-geistigen Wesenheit mit Ausdriik-
ken, mit Worten, die auf den physischen Plan beziiglich sind. Denn
nicht allein darauf kommt es an, dafi jene im Verhaltnis zur ganzen
Menschheit Wenigen, die eine leibliche Anschauung und Beob-
achtung von dem Christus Jesus gewinnen konnten, diese Anschau-
ung auf dem physischen Plane hatten, sondern darauf kommt es an,
dafi dasjenige, was man von dem Christus Jesus erzahlen kann,
solche Darstellungen sind, die Ereignisse des physischen Planes
wiedergeben.
Denn von allem, was man friiher iiber andere gottlich-geistige We-
senheiten zu erzahlen hatte, konnte man nicht sagen, daft die Erzah-
lung, welche die Worte des physischen Planes nimmt, sich deckt mit
den wirklichen Ereignissen. Alles, was auf die hochsten gottlichen
Wesenheiten bezuglich erzahlt wurde, mufi so aufgefaftt werden,
daft die Worte nur als Hindeutungen gelten konnten, daft aber das,
was geschehen ist, nur verstanden werden kann von demjenigen, der
die Worte anwenden kann auf die Vorgange der hoheren Plane. Das
Leben des Christus Jesus aber, wie es sich abgespielt hat, kann jeder
verstehen, der auch nur imstande ist, das, was erzahlt wird, anzu-
wenden auf Vorgange des physischen Planes. Und in dieser Rich-
tung kann man sagen: Die Christus- Wesenheit ist heruntergestiegen
bis in eine physische Verkorpemng, vollstandig bis zum Leben in
einem physischen Leibe. Das muftte also geschehen, weil die
menschlichen Fahigkeiten dazumal diesen Charakter trugen, weil in
der damaligen Zeit sich das menschliche Ich als solches seiner Wesen-
heit bewuftt werden sollte und muftte, wenn die Entwickelung der
Menschheit in der entsprechenden Weise vor sich gehen sollte.
Wir haben schon gesehen, daft der bedeutendste Vermittler des Er-
eignisses von Palastina aus der Reihe der alteren Individualitaten der
Zarathustra oder Zoroaster war. Damit er aber das werden konnte,
was er in jener Zeit werden muftte, dazu muftte ein Korper geschaf-
fen werden, der wie einen Extrakt in sich selber alles enthielt, was
einem ganzen Volke gegeben war, einem solchen Volke, das der
Menschheit diejenigen Fahigkeiten zu geben hatte, welche durch
physische Vererbung vermittelt werden miissen. Das haben wir als
das Wesentliche des althebraischen Volkes von Abraham bis zu Jesus
anzusehen, daft von Generation zu Generation sich diejenigen Fa-
higkeiten entwickeln mufiten, die von Vater auf Sohn, von Sohn auf
Enkel und so weiter sich immer steigernd, vererbt werden mufken,
damit sie dann in ihrer hochsten und brauchbarsten Ausbildung er-
schienen in jenem Leibe, der eben vererbt war von Abraham an iiber
Salomo herunter auf den Jesus, der der Trager des Zarathustra war.
Es wird noch viel, viel dazu gehoren, daft wir in der Lage sein wer-
den durch unsere Betrachtungen, die hier in der Zukunft noch ge-
pflegt werden, die ganze Mission des althebraischen Volkes in alien
Einzelheiten zu verstehen. Denn dazu gehort, dafi wir wirklich nach
und nach verstehen lernen werden, wie von Geschlecht zu Ge-
schlecht immer mehr veredelt wurden jene Eigenschaften, die der
Korper des Jesus brauchte. Es mufite dieser Korper zu seinem welt-
historischen Beruf so fahig wie moglich gemacht werden. Das war
nur dadurch moglich, dafi alles, was zu diesem Leibe des salomoni-
schen Jesus gehorte, in bezug auf jene Fahigkeiten selber so vollkom-
men war als moglich.
Nun wissen wir, dafi an jedem menschlichen Leibe tatig waren seit
uralten Zeiten die vier Glieder der menschlichen Natur, der physi-
sche Leib, der Atherleib, der Astralleib und das Ich, und dafi in die
Zukunft hinein tatig sein werden Geistselbst, Lebensgeist und Gei-
stesmensch. Aber wir diirfen das nicht so ansehen, als ob da plotz-
lich etwa die Tatigkeit zum Beispiel des Astralleibes aufhorte und
gar nicht sich vorbereiten wiirde das Spatere in dem Friiheren. In ge-
wisser Beziehung mufi sich alles Spatere im Friiheren vorbereiten.
Der Mensch kann zwar aus eigener Kraft heute nicht so an sich ar-
beiten, dafi zum Beispiel auch der Lebensgeist in ihm besonders zum
Ausdruck kame; aber andere, gottlich-geistige Wesenheiten arbeiten
mit einer solchen Tatigkeit im Menschen, die eine Tatigkeit des Le-
bensgeistes genannt werden kann. Das gilt auch in bezug auf den
Geistesmenschen. Es mufiten also alle sieben Glieder des Leibes des
Jesus von Nazareth oder vielmehr der menschlichen Organisation
des Jesus von Nazareth in bezug auf die Eigenschaften, die in Be-
tracht kamen, veredelt werden. Dazu brauchte es einer ganz beson-
deren Vorbereitung. Diese Vorbereitung soil uns heute zunachst
eine Ahnung davon verschaffen, welche Geheimnisse in der Ent-
wickelung der Menschheit und der Erde eigentlich verborgen sind.
Es mufiten die Keime zu jener Vollkommenheit des Leibes des Je-
sus von Nazareth von langer Hand her vorbereitet werden. Wir ha-
ben gesehen, wie in der Zeit von Abraham bis zu Salomo oder David
die erste Periode gerade so arbeitete an den Geschlechtern, wie sonst
am einzelnen Menschen in dem Zeitraum von der Geburt bis zum
Zahnwechsel gearbeitet wird am Physischen. Die Arbeit wurde nun
so verrichtet von den hinter der Entwickelung tatigen Kraften, daft
tatsachlich in einer gewissen Zeit ein Vorfahre des Jesus da war, der
schon die Anlage enthielt zu den moglichst vollkommensten Fahig-
keiten, die dann herauskamen in dem Leibe, der der Trager des Zara-
thustra wurde. Also in einem Vorfahren des Jesus war sozusagen die
Anlage vorhanden zu einer richtigen Ausbildung aller sieben Glie-
der der menschlichen Natur. Mit anderen Worten: Wenn wir in der
Vorfahrenreihe des Jesus von Nazareth heraufgehen, miissen wir
einen solchen Vorfahren finden, der die Keime der siebengliedrigen
Menschennatur, wenn auch nicht so vollkommen ausgebildet wie in
dem Leibe des Jesus von Nazareth, so doch in der Anlage zu dieser
Vollkommenheit, enthielt. Wenn das auch nicht in der aufteren
Uberlieferung ausgedriickt ist, die althebraische Geheimlehre kann-
te diese Tatsache. Sie wuftte, daft einmal ein Mensch gelebt hat, von
dem man sagen muft, in ihm wirkten die sieben menschlichen Glie-
der so, daft man sie als ganz besonders bemerkenswerte zu bezeich-
nen hat. So deuten tatsachlich die Eingeweihten auch der althebra-
ischen Geheimlehre auf einen Vorfahren des Jesus von Nazareth hin,
bei dem sie sich bewuftt waren: Wir miissen in diesem Vorfahren die
sieben menschlichen Glieder in einer ganz besonderen Weise ansehen.
Und so nannten sie denn bei diesem Vorfahren das Ich «Itiel», um
damit anzudeuten, daft in diesem Vorfahren das Ich jene Kraft haben
muftte - denn das Wort «Itiel» wurde ungefahr heifien «Kraftbesit-
zer» -, jene Kraft, jene Kuhnheit haben muftte, die, wenn sie sich
durch die Geschlechter vererbte, der richtige Ich-Trager werden
konnte fur jene hohe Wesenheit, die dann wiedererscheinen sollte in
dem Jesus von Nazareth. So nannten sie den Astralleib jenes Vorfah-
ren «Lamuel»; das wiirde ungefahr bezeichnen einen astralischen
Leib, der so entwickelt ist, daft er das Gesetz, die Gesetzmaftigkeit
nicht allein aufterhalb seiner, sondern als in sich tragend fiihlt. So
nannten sie den Atherleib dieses Vorfahren «Ben Jake»; das wiirde
heiften: ein solcher Atherleib, der moglichst in sich durchgearbeitet
worden ist und in gewisser Vollkommenheit Gewohnheiten in sich
aufnehmen kann. Und den physischen Leib dieses Vorfahren nann-
ten sie «Agur», aus dem Grunde, weil die physische Tatigkeit, die Fa-
higkeit dieses Vorfahren auf dem physischen Plan darinnen bestan-
den hat, dafi er das, was an alten Uberlieferungen vorhanden war,
sammelte; denn «Agur» wiirde heiften «der Sammler». Wie dann
durch das, was im Leibe des Jesus vorgegangen ist, gesammelt wur-
den alle alten Lehren der Welt, so hat sich das schon als Anlage bei
diesem Vorfahren durch das Sammeln der alten Urkunden entwik-
kelt. Und was wie Atma oder Geistesmensch in diesem Vorfahren
arbeitete, das nannten sie, weil mit einer besonderen Sorgfalt sozusa-
gen die Liebe der gottlich-geistigen Wesenheiten an dieser Anlage
zum Geistesmenschen arbeitete, mit einem Wort, das ungefahr «der
Liebling Gottes» bedeuten wiirde, «Jedidjah». Und was als Buddhi
oder Lebensgeist hineinwirkte in diesen Vorfahren, wovon sie sag-
ten: In diesem Vorfahren mull ein solcher Lebensgeist wirken, dafi
er wie ein Lehrer des ganzen Volkes wirken kann, damit sich ausgie-
fien kann, was dieser Lebensgeist enthalt, auf das ganze Volk - , das
bezeichneten sie als «Kohelet». Und endlich nannten sie Manas oder
Geistselbst dieses Vorfahren - weil sie sagten, ein solches Geist-
selbst muft die Anlage in sich enthalten innerlich abgeschlossen zu
sein, in sich im Gleichgewicht zu sein - , mit einem Wort, das da be-
deutet «inneres Gleichgewicht», «Salomo».
So hat denn dieser Vorfahre, den man gewohnlich nur kennt unter
dem Namen «Schelomo», «Schlomo» oder «Salomo», die drei
Hauptnamen: Jedidjah, Kohelet, Salomo; und er hat die vier Neben-
namen Agur, Ben Jake, Lamuel, Itiel, weil diese Namen die vier
Hiillen bedeuten, wahrend die drei ersten Namen das gottliche
Innerliche bezeichnen. Sieben Namen hat fur die althebraische Ge-
heimlehre diese Personlichkeit.
Und wenn spater sozusagen die Menschen, auch gewisse Sekten
unter den Juden selber, nicht zufrieden waren mit Salomo - ob mit
Recht oder Unrecht, soil hier nicht untersucht werden - , so kann
das dadurch erklart werden, da£ in diesem Salomo hohe, ganz grofie,
bedeutsame Anlagen waren, die sich zu dem angegebenen Ziel dann
weiter verpflanzen sollten, und dafi der einzelne Mensch auf einer
bestimmten Stufe der Entwickelung in seinem aufteren Leben durch-
aus nicht immer das darzustellen braucht, was er als Anlage vererben
soil auf seine Nachkommen, dafi er vielleicht gerade deshalb, weil
hohe Krafte in ihm sind, mehr der Moglichkeit ausgesetzt ist, gegen
die Richtung solcher Krafte zu fehlen, als ein anderer, der solche
Krafte nicht in sich hat. Was man als moralische Fehler bei Salomo
bemerken wurde, das wurde nicht in Widerspruch stehen mit dem,
was die althebraische Geheimlehre in Salomo sieht, sondern es
wiirde sich sogar im Gegenteil gerade aus dieser Tats ache heraus
das Fehlerhafte an Salomo erklaren.
So blickte die althebraische Geheimlehre auf einen Vorfahren des
Jesus hin, von dessen Bedeutung sie in bezug auf die ganze Mission
des althebraischen Volkes sich vollstandig bewufit war. Alles, was in
dieser Personlichkeit veranlagt war, verpflanzte sich dann weiter
herunter und erschien in der Essenz dann, als es im weltgeschicht-
lichen Verlauf gebraucht worden ist. Das ist etwas, was uns eine
Ahnung verschaffen soli, welche gesetzmafiigen Geheimnisse sich
hinter der Entwickelung der Menschheit verbergen.
Wenn nun so die Mission des althebraischen Volkes vornehmlich
darinnen bestand, dafi gleichsam hineingeimpft wurde in das Blut, in
die physische Vererbung, was durch dieses Volk an Fahigkeiten der
Menschheit aus den geistigen Welten gegeben werden sollte, so war
eben zur Zeit des Auftretens des Taufers Johannes und des Jesus von
Nazareth die Menschheit so weit, daft sie durch diese veredelten Ei-
genschaften aufnehmen sollte den Impuls, wiederum hinaufzustei-
gen in die geistige Welt, mit anderen Worten, aufnehmen sollte den
Christus-Impuls. Deshalb wurde das gesagt, um anzudeuten, was al-
les fur Veranstaltungen notwendig waren, um innerhalb der physi-
schen Menschheitsentwickelung eine solche Hiille zu schaffen, die
umschliefien durfte das Christus-Wesen.
Nun fiihlen und empfinden wir vielleicht auch das Radikale des
Fortschrittes fur die Menschheitsmission durch diese bis ins Physi-
sche herabgetragene gottliche Mission des jiidischen Volkes, fiihlen,
wie bis in die physische Materie das Gottliche am tiefsten herabge-
tragen worden ist, damit von diesem Wendepunkt aus die Mensch-
heit um so mehr wieder hinaufsteigen kann von dem verfeinerten
Physischen ins Geistige. Der Aufstieg ins Geistige mulke eben von
jener Zeit an beginnen. Dazu aber mulke nunmehr ein solcher Im-
puls der Menschheit gegeben werden, der gewissermafien alles, was
die Menschheit wollen soli und erwarten soli von der Weltentwicke-
lung, wirklich in jenes tiefste Zentrum des Menschen legte, das mit
dem Ich zu bezeichnen ist. In das tiefste Innere des Menschen sollte
der Impuls durch Christus hineingehen. Aus dem Leibe des Christus
heraus sprach ein solcher Impuls, der an das tiefste Wesen der
menschlichen Natur appellierte. Was also sollte unter diesem Impuls
anders werden?
Bevor dieser Impuls gekommen war, war es so, dafi die Menschen
das, was sie am meisten begliickte, am meisten selig oder gotterfullt
machte, in gewisser Weise von aufien empfingen oder erwarteten.
Wenn man nioht die Weltgeschichte blofi nach den aufieren Urkun-
den betrachtet, sondern nach dem, was die geistigen Urkunden ge-
ben konnen, so muli man sich sagen: Wir blicken zuriick in alte Zei-
ten, wo der Mensch dadurch in das Reich der geistigen Wesenheiten
aufstieg, dafi in ihm, sei es mehr oder weniger normal, die Hellseher-
gabe erwachte. Aber diese Hellsehergabe erwachte traumhaft, wah-
rend gottlich-geistige Krafte in ihm wirkten und das Ich herunterge-
driickt war. Der Mensch war mehr oder weniger aufierhalb des Ich.
War er schon im normalen Zustand sich dieses Ich nicht so sehr be-
wufit als in spateren Zeiten, so war er in den Zeiten, wo der Geist in
ihm wirkte und ihn hinauftrug in die geistige Welt, ganz aufier sich,
ganz aufier seinem Ich. Er war vollig hingegeben entweder an das au-
fiere Gottlich-Geistige oder an das Gottlich-Geistige in seiner Seele.
Aber in diesen Augenblicken der Ekstase, der Begeisterung war er
sich seines Zustandes gar nicht bewufit. Das sollte ja eben kommen,
dafi der Mensch eine Verbindung finden sollte zum Geistigen aus sei-
nem Ich heraus und yon da aus den tiefsten Kern seines Wesens
durchdringen konnte mit dem Bewufitsein: Ich gehore einem gott-
lich-geistigen Reiche an. - Das konnte nur dadurch geschehen, dafi
der Christus auf der Erde lebte, sein Wesen den Erdenwesen einflofi-
te, und dafi das Ich sich mit dem durchdringen konnte, was sich als
das Vorbild des Christus ergab. Dadurch konnte sich der Mensch sa-
gen: Ich bin jetzt mit meinem Ich im geistigen Reiche, in den Rei-
chen der Himmel, so wie friiher die Menschen aufier dem Ich in den
Reichen der Himmel waren. «Die Reiche der Himmel sind nahe her-
beigekommen!», das war die neue Lehre. Dazu sollte die Seelenver-
fassung, der Sinn der Menschen geandert werden, um nicht mehr zu
glauben, dafi man aufierhalb des Ich, nur im Zustande der Ekstase,
hinaufgetragen werden konnte in die geistige Welt, sondern im Zu-
stande des vollen Ich-Bewufitseins seine Verbindung finden kann
mit den Reichen der Himmel.
Daft das geschehen mufite, das kann man noch dadurch einsehen,
dafi sich der Zustand des alten Hellsehens im Laufe der Jahrtausende
immer mehr verschlechtert hat. Wahrend in alten Zeiten der
Mensch in seinen ekstatischen Zustanden zu den guten gottlich-
geistigen Machten hinaufstieg, in seine gottlich-geistige Heimat hin-
einstieg, war das, was dem Menschen in der Zeit der Begriindung des
Christentums noch geblieben war von ekstatischen Zustanden, so,
dafi er jetzt, wenn er aufterhalb seiner war, nicht mehr zu den guten
geistigen Machten, sondern zu den schlimmen, bosen geistigen
Machten gefiihrt wurde. Das ist uberhaupt der grofte Unterschied
zwischen diesen zwei Entwickelungszustanden: Wenn in uralten
Zeiten der Mensch mit Unterdriickung des Ich, was wir heute me-
dial nennen wiirden, sich traumhaft erhob zu den geistigen Welten,
dann war er mit guten geistigen Wesenheiten in Gemeinschaft. Das
hatte sich aber geandert in jener Zeit, als der Mensch durch das Ich
das Band zu den Reichen der Himmel finden sollte; und wenn er
jetzt die ekstatischen Zustande suchte oder entwickelte, dann wur-
den sie bezeichnet als Zustande der «Besessenheit», welche den Men-
schen mit bosen, ihm feindlichen geistigen Machten in Verbindung
brachten. So mufke in der Zeit, als der Christus Jesus auftrat, gerade-
zu als heilsame Lehre verkiindet werden: Es ist nicht richtig, daft ihr
versucht, unter Ausschlufi eures Ich in Zustande zu kommen, wo
ihr die geistigen Welten wahrnehmt, sondern jetzt ist es richtig, daft
ihr in eurem tiefsten Wesenskern das Band sucht zu den gottlich-
geistigen Reichen!
Diese Lehre liegt im wesentlichen beschlossen in der Bergpredigt
des Matthaus-Evangeliums. In alten Zeiten, so konnte man um-
schreiben, gab es ein traumhaftes Hellsehen. Da wurde der Mensch
hinaufversetzt durch Ekstase in geistige Welten. Damals war er reich
an geistigem Leben, er war kein Bettler urn Geist, wie er es gewor-
den ist in der Zeit, als das Christentum begriindet wurde. Wenn er in
alten Zeiten durchdrungen war von Geist, von dem, was man im
Griechischen «Pneuma» nennt, dann wurde er hinaufentriickt in
gottlich-geistige Welten. Jetzt konnte der Christus nicht sagen: Gott-
erfullt sind die, welche durch ekstatische Zustande reich werden an
Geist! - denn die muftten gerade geheilt werden als die Besessenen.
Daher wird vorher von der Heilung der Besessenen gesprochen.
Jetzt mufite er verkiinden: Die Zeit ist gekommen, wo gotterfullt
sind diejenigen, welche geworden sind Bettler um Geist! - das heifit
solche, die sich nicht mehr erheben konnen zu ekstatischen, zu
traumhaft hellseherischen Zustanden, sondern die angewiesen sind,
in sich selber das Reich der Himmel zu suchen, von ihrem Ich aus.
Wenn der Mensch friiher hineinversetzt war in das Erdenleid und
in den Erdenschmerz, dann brauchte er, weil es fur ihn ja in seiner
Wesenheit einen Zustand gab, durch den er entnickt werden konnte
zu den gottlich-geistigen Welten, diesen Zustand nur in sich hervor-
zurufen. Er brauchte das Leid nicht zu ertragen, sondern wenn Leid
ihn befiel, konnte er jenen Zustand aufsuchen, wo er geist- oder gott-
erfullt war, und konnte in diesem Zustand, in einem Entriicktsein
von seinem Ich, Heilung finden von den Leiden und Schmerzen der
Erde. Aber auch diese Zeit mufite von dem Christus Jesus als eine
solche bezeichnet werden, die voriiber ist. Jetzt sollen gotterfullt
werden diejenigen, die nicht mehr imstande sind, den Beistand im
Leid von aufien zu erfahren, sondern die durch Starkung ihres eige-
nen Ich die Kraft im Innern suchen; die den Paraklet im Innern fin-
den. Gotterfullt sind die, die das Leid nicht verscheuchen durch ek-
statische Erhebung zum Gott, sondern die es tragen und die Kraft
des Ich entwickeln, wodurch sie in sich finden den Paraklet, den
man spater den «Heiligen Geist» nannte, der sich durch das Ich
offenbart.
Noch der Buddha hatte nicht empfohlen, das Leid zu tragen, son-
dern das Leid abzustreifen, mit allem Erdendurst abzustreifen. Noch
sechshundert Jahre vor dem Christus Jesus hat Buddha gerade das als
schlimme Folge des Durstes nach Dasein bezeichnet, was als Leid auf
der Erde ist. Sechshundert Jahre spater sprach es der Christus im
zweiten Satz der Bergpredigt aus, dafi das Leid nicht in dieser Weise
abgestreift werden sollte, sondern getragen werden soli, auf dafi es
eine Priifung sei, damit das Ich jene Kraft entwickelt, die es in sich
selber finden kann: den inneren Beistand, den «Paraklet». Das ist
wortlich im zweiten Satz der Bergpredigt enthalten bis auf den Aus-
druck «Paraklet». Man raufi nur die Dinge in der richtigen Weise le-
sen. Das ist ja gerade die Aufgabe in unserer Zeit, aus dem, was uns
die Geisteswissenschaft gibt, die grofien, ebenfalls geisteswissen-
schaftlichen Urkunden lesen zu lernen.
Ein drittes ist dies: Wenn in alten Zeiten die Menschen sich durch-
dringen konnten mit dem, was aus der Ekstase kommt, was man im
Griechischen als «Pneuma», Geist, bezeichnet, dann wurden sie in-
stinktiv ihre Bahn geleitet. Alle Impulse, Handlungen, Leidenschaf-
ten, Triebe und Begierden, kurz alles, was im astralischen Leib des
Menschen ist, das wurde instinktiv geleitet; es wurde zum Guten ge-
leitet, wenn der Mensch imstande war, sich zu guten geistigen We-
senheiten zu erheben. Aber es war noch nicht von dem Ich ausgegan-
gen die innere Kraft, Leidenschaften, Triebe und so weiter zu zah-
men, zu lautern und ins Gleichgewicht zu bringen. Jetzt aber war
die Zeit gekommen - das mufite wiederum der Christus verkiin-
den - , wo die Menschen, wenn sie zahmen und lautern, gleichmiitig
machen die Leidenschaften, Triebe, Begierden ihres Astralleibes,
durch sich selber erreichen, was das Ziel der gegenwartigen Mensch-
heit ist und was man dadurch ausdriickt, dafi man hinweist auf den
grofien Fortgang der Entwickelung. Dieser Fortgang der Entwicke-
lung hat sich uns oft in folgender Weise dargestellt. Der Mensch be-
gann sein Dasein auf dem alten Saturn, setzte es fort durch Sonnen-
und Mondendasein und bekam auf der Erde sein Ich zuerteilt. Aber
nur wenn er sich seines Ich bewufit wird, wenn er das, was ihm in
seinem astralischen Leib noch auf dem Monde gegeben ward, zahmt,
gleichmiitig macht, kann er das Ziel der Erdenmission wirklich er-
reichen. Diejenigen konnen durch den Christus-Impuls gotterfullt
werden, die ihre Triebe und Begierden im astralischen Leib zahmen,
gleichmiitig machen. Dadurch werden sie durch sich selber finden
die Erde. - So ist im dritten Satz der Bergpredigt dieses, was eigent-
lich immer mit einem unsinnigen Wort iibersetzt wird, gesagt: Die-
jenigen, welche gleichmiitig machen - nicht: sanftmiitig — ihre
Triebe, Begierden und Leidenschaften, werden als ein Los zugeteilt
erhalten, oder man kann auch sagen, erben die Erde.
Da haben wir die drei ersten Satze der Bergpredigt in ihrer ganzen
weltgeschichtlichen Bedeutung vor uns stehen: Was im Physischen
durch eine besondere Ausbildung des physischen Leibes in alten
Menschheitszeiten moglich war, dafi die Menschen in hellseherisch-
traumhaften Zustanden das Geistige sahen, das ist im ersten Satz der
Bergpredigt fur den physischen Leib ausgesprochen, der jetzt ver-
armt ist an inner er Geisterfiilltheit. Fur den Atherleib, durch den
das Leid bewufit wird, wenn es auch zunachst im astralischen Leib
bewufit wird, ist angedeutet, daft die Menschen in sich selber eine
Kraft entwickeln miissen, um einen Beistand zu finden gegen das
Leid, das sie als Priifung tragen. Dann haben wir fur den astralischen
Leib angefuhrt, dafi der Mensch durch Zahmung und Lauterung sei-
ner Triebe, Leidenschaften und so weiter jene starke Kraft in seinem
Innern findet, wodurch er ein eigentliches Ich wird und die Mission
der Erde als sein Los zugeteilt erhalt.
Wenn wir jetzt zu dem Ich hinauf kommen, so wissen wir, dafi
dieses Ich arbeitet in der Empfindungsseele, in der Verstandesseele
und in der Bewufitseinsseele. Das Ich arbeitet in der Empfindungs-
seele, das heifk, es vergeistigt die Empfindungsseele. Dadurch wird
fur den Menschen in der aufieren Welt dasjenige zu einer wichtigen
Angelegenheit, was gerade durch das Christentum verbreitet werden
soli: die Allgerechtigkeit ausgiefiende menschliche Bruderliebe. Was
sonst die Empfindungsseele nur im Physischen empfindet, Durst
und Hunger, das mu6 sie durch das Christentum in bezug auf das
Geistige zu empfinden lernen: Durst und Hunger nach der allwal-
tenden Gerechtigkeit. Diejenigen, welche so das Zentrum des Men-
schen im Ich finden, werden dadurch, dafi sie an sich selber arbeiten,
befriedigt werden fur ihr Verlangen in der Empfindungsseele nach
allwaltender irdischer Gerechtigkeit. Gotterfiillt werden sie sein, die
durch den Christus-Impuls lernen nach Gerechtigkeit zu diirsten
und zu hungern, wie man nach physischer Nahrung hungert und
diirstet, denn durch die starke Kraft in ihrem Innern werden sie da-
durch, daft sie arbeiten an der Gerechtigkeit in der Welt, in sich sel-
ber finden die Sattheit fur diese Eigenschaft!
Nun kommen wir zur Verstandesseele. Wir haben ofter betont:
Wahrend in der Empfindungsseele das Ich noch dumpf briitet,
glanzt es zuerst auf als eigentliches menschliches Ich in der Verstan-
desseele, um sich dann voll bewuftt zu werden in der Bewufttseins-
seele und da erst ein reines Ich zu werden. Da ist also etwas ganz Ei-
gentiimliches vorhanden: Das menschliche Ich, dasjenige, wodurch
wir alien Menschen gleich sind, was ein jeder in sich tragt, glanzt auf
in der Verstandesseele. Wo wir auch einen Menschen finden in der
Welt, er ist dadurch ein Mensch und unseresgleichen, daft in seiner
Verstandesseele ein Ich aufglanzt. Dadurch werden wir zu unseren
Mitmenschen in ein richtiges Verhaltnis kommen, daft uns gerade in
der Verstandesseele etwas aufgeht, das wir so, wie wir es empfangen
konnen, in die Aufienwelt hinaustragen sollen. In der Verstandes-
seele sollen wir etwas entwickeln, was wir so in die Umgebung hin-
ausflieften lassen, wie es wieder zu uns zuriickflieften soil. Daher ist
es in der Bergpredigt das einzige Mai, daft das Subjekt des Satzes dem
Pradikat gleich ist: Gotterfiillt, oder selig, sind die, die da Liebe ent-
falten; denn durch das Ausstrahlen der Liebe wird ihnen wieder Lie-
be. - Darinnen sehen Sie die unendliche Tiefe einer solchen geisti-
gen Urkunde, daft sie selbst in ihrer Satzfiigung bis in solche Einzel-
heiten hinein verstanden werden kann, wenn man nach und nach
durch Jahre hindurch zusammengetragen hat, was Geisteswissen-
schaft geben kann, um den Menschen und die Welt zu begreifen.
Den funften Satz der Bergpredigt kann man gar nicht verstehen in
seinem Unterschiede zu den anderen Satzen, die alle ein anderes Pra-
dikat als Subjekt haben, wenn man nicht den Hinweis dieses Satzes
kennt gerade auf die Verstandes- oder Gemiitsseele.
Jetzt gehen wir hinauf zur Arbeit des Ich an der Bewufttseinsseele.
Da wird das Ich sozusagen erst rein, kann sich seiner selbst erst voll-
standig bewufit werden. Das wird in der Bergpredigt sehr schon da-
durch ausgedriickt, dafi gesagt wird: Nur im Ich kann es sein, wo die
gottliche Substanz dem Menschen aufgeht. Gotterfiillt sind die, die
in ihrem Blute oder Herzen - was der Ausdruck des Ich ist - rein
sind, die nichts hineinkommen lassen als das, was die reine Ichheit
ist, denn sie werden darinnen den Gott erkennen, den Gott schauen!
Jetzt kommen wir hinauf zu demjenigen in der Bergpredigt, was
schon nach dem Geistselbst, Lebensgeist und Geistesmenschen hin
gerichtet ist. Da kann der Mensch nicht mehr blofi durch sich selber
arbeiten, da mufi er auf der jetzigen Entwickelungsstufe appellieren
an die gottlich-geistigen Welten, die gerade durch den Christus in
Verbindung mit der Erde gebracht worden sind, da mufi er mit sei-
nem Ich aufschauen zu den erneuerten gottlich-geistigen Welten.
Wahrend friiher in die Menschheit hineingekommen ist, und auch
heute noch hineinkommt Streit und Disharmonie durch die Ichheit,
soli sich durch den Christus-Impuls iiber die Erde ausgiefien Friede.
Und diejenigen, welche den Christus-Impuls aufnehmen, werden in
jenem Teil der Menschennatur, der sich erst nach und nach in der
Zukunft als Geistselbst entwickelt, Friedenstifter werden; und sie
werden dadurch in einem neuen Sinne «S6hne Gottes» werden, in-
dem sie den Geist aus den geistigen Reichen heruntertragen. Gotter-
fiillt sind die, die da Frieden oder Harmonie bringen in die Welt; da-
durch sind sie Sonne Gottes! - Denn so miissen die genannt werden,
die wirklich innerlich erfullt sind von einem Geistselbst, das Frieden
und Harmonie bringen soil iiber die Erde.
Nun miissen wir uns klar sein, dafi von allem, was sich auf der
Erde entwickelt, Restliches aus friiheren Zeiten zunickbleibt in spa-
tere Zeiten hinein. Dieses Restliche ist in gewisser Weise demjenigen
feindlich, was sich als Keim immer hineinstellt in die spateren Zei-
ten. So wird dasjenige, was der Christus-Impuls bringt, hineingestellt
in die ganze Menschheitsentwickelung, aber nicht auf einmal, son-
dern so, dafi Reste vorhanden bleiben von dem, was die friihere
Menschheitsentwickelung gebracht hat. Da ist es notwendig, dafi
die, welche diesen Christus-Impuls zuerst verstehen, feststehen auf
dem Boden desselben, ganz innerlich durchdrungen sind von seiner
Kraft. Und wenn sie innerlich durchdrungen sind von der Kraft, die
von dem Samen ausgeht, der durch den Christus gekommen ist, und
wenn sie feststehen auf diesem Boden, dann werden sie gerade da-
durch, daft sie die Kraft der Festigkeit entwickeln, im neuen Sinne
gotterfullt sein. Gotterfullt sind die, die unter der neuen Ordnung,
die unter dem Christus steht, Verfolgung erleiden von dem, was
noch aus der alten Ordnung hereinragt! - Und der letzte Satz der
Bergpredigt weist direkt auf den Christus-Impuls selber hin, indem
er zu den Aposteln sagt: Und gotterfullt sollt ihr sein, die ihr beson-
ders berufen seid, den Namen des Christus in die Welt zu tragen!
So sehen wir, wie aus den grofien kosmologischen und Mensch-
heitslehren heraus in der Bergpredigt direkt das Christentum abge-
leitet wird, und daft uberall hinge wiesen wird auf jene Kraft des In-
nern, die im Ich selber ihren Mittelpunkt finden muft. Das muft
durchaus verstanden werden. Das muft bis heute verstanden werden,
und es muft bis heute so verstanden werden, daft nicht diejenigen
glauben, im echten Sinne christlich zu sein, welche etwa in irgend-
welchen dogmatischen Nebenbedeutungen das Christentum suchen,
sondern gerade diejenigen sind im echten Sinne christlich, welche die
Bedeutung des Satzes verstehen: Andert die Seelenverfassung oder
den Sinn, denn die Reiche der Himmel sind bis ins Ich hineingestie-
gen! - Die sind im echten Sinne christlich zu nennen, die darinnen
das Wesentliche sehen, und die auch weiter verstehen, daft dasjenige,
was im wahren Sinne christlich ist, anders ausgesprochen werden
muftte im Beginne unserer Zeitrechnung und anders ausgesprochen
werden muft heute!
Es ist ein schlimmes Miftverstandnis des Christentums, wenn man
glauben wollte, daft das, was als christlich mit den Worten der Zeit
von vor zwei Jahrtausenden bezeichnet wurde, sich bis heute nicht
weiter entwickelt hatte. Man muftte das Christentum als eine tote
Kulturstromung bezeichnen, wenn man heute ebenso reden muftte
wie vor zweitausend Jahren. Das Christentum ist ein lebendiges! Es
entwickelt sich und wird sich immer weiter entwickeln. Und so
wahr es ist, daft das Christentum seinen Ausgangspunkt nehmen
muftte von der Zeit, in der die Menschen heruntergestiegen sind bis
auf den physischen Plan, seinen Ausgangspunkt nehmen muftte von
einer Vermenschlichung eines Gotteswesens in einem physischen
Menschenleib, ebenso wahr ist es, dafi die Menschen gerade in unse-
rer Zeit lernen miissen, sich hinauf zu erheben, um das Christentum
und die Christus- Wesenheit selber wieder zu verstehen von einem
hoheren geistigen Standpunkt aus. Was heifit das?
So wahr die alten traumhaft hellseherischen Krafte sich verloren
haben, so daft zur Zeit des Christus nicht mehr die als gotterfiillt be-
zeichnet werden konnten, die im alten Sinne geisterfiillt waren, son-
dern die, die in sich selber fanden die Reiche der Himmel, so wahr
ist es, dafi mit diesem vollen Bewufitsein des Ich die Menschen wie-
der hinaufsteigen in die geistige Welt und sich wieder neue Krafte
und Fahigkeiten entwickeln werden. Und so wahr zur Zeit des Tau-
fers die Zeit gekommen war, wo die Menschen jene Fahigkeiten ge-
rade zu einer Krisis gebracht hatten, die auf den physischen Plan her-
unterfuhren, so wahr ist es, dafi wir gegenwartig in einer wichtigsten
Zeit stehen. Was man das finstere Zeitalter nennt, das begonnen hat
mit dem Jahre 3101 vor Christus, und das seinen Hohepunkt er-
reicht hatte, als sich der Christus verkorperte, das hat sein Ende
erreicht am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Das Kali Yuga hat sein
Ende erreicht im Jahre 1899, und wir gehen einer Zeit entgegen, in
welcher sich auf natiirliche Weise unter den Menschen neue Krafte
und Fahigkeiten entwickeln, die sich noch in der ersten Halfte unse-
res jetzigen Jahrhunderts klar und deutlich zeigen werden. Diese
neuen Krafte und Fahigkeiten wird man verstehen miissen. Insbe-
sondere diejenige Menschheit, welche die Aufgabe der Geisteswis-
senschaft begriffen hat, wird verstehen miissen, dafi ein solches Erhe-
ben zum Geistigen wieder moglich ist. Denn in den wichtigen Zei-
ten, die auf das Jahr 1930 folgen werden, werden einzelne Menschen
wie aus ihrer Natur heraus fahig werden, hohere Krafte zu entwik-
keln, wodurch sichtbar werden wird, was wir den Atherleib nennen.
Atherisch hellseherische Krafte werden sich entwickeln bei einer
Anzahl von Menschen.
Zweierlei wird dann moglich sein. Entweder der Materialismus
unseres Zeitalters geht welter: Dann wird man, wenn solche Krafte
sich zeigen, nicht verstehen, daft sie hinauffiihren in die geistigen
Welten; man wird sie miftverstehen, und dadurch werden sie unter-
driickt werden. Wenn das geschahe, wiirde das nicht dazu berech-
tigen, daft die Menschen aus dem materialistischen Sinne heraus am
Ende des Jahres 1940 etwa sagten: Nun seht, was das fiir phantasti-
sche Propheten waren am Anfange des 20. Jahrhunderts! Nichts hat
sich erfullt! - Denn wenn die neuen Fahigkeiten nicht da sein wer-
den, wird das keine Widerlegung dessen sein, was jetzt gesagt werden
kann und muft, sondern es wird nur ein Beweis dafiir sein, daft die
unverstandige Menschheit diese Fahigkeiten im Keime erstickt und
sich dadurch etwas genommen haben wird, was die Menschheit wird
haben miissen, wenn sie in ihrer Entwickelung nicht verdorren und
veroden will. Das ist die grofte Verantwortung der Anthroposophie.
Die Anthroposophie ist entsprungen aus der Erkenntnis der Not-
wendigkeit, daft vorgearbeitet werden muft fiir etwas, was kommen
wird, und das auch iibersehen und unterdriickt werden konnte. Vor-
zuarbeiten hat die Anthroposophie fiir das Verstandnis geistig sich
entwickelnder Krafte der Menschheit. Werden diese Krafte unter-
driickt werden, dann wird die Menschheit weiter in den Sumpf des
Materialismus hineingehen.
Das andere ist, daft die Anthroposophie Gliick hat mit ihren Leh-
ren zur Verbreitung eines Verstandnisses fiir die Erhebung der Men-
schen in die geistige Welt, daft sie Gliick hat mit dem Herausheben
der Menschen aus materialistischer Gesinnung. Dann aber wird jetzt
etwas eintreten miissen aus der anthroposophischen Geistesbewe-
gung heraus, was in friiheren Jahrhunderten sich vorbereitet hat,
was aber jetzt in unserer Zeit an einem besonders wichtigen Wende-
punkt sich voll entwickeln muft.
Die friiheren Jahrhunderte waren dazu geeignet, den materialisti-
schen Sinn der Menschheit immer mehr zu pflegen. Daher konnte
man friiher unter dem materialistischen Einfluft glauben, daft der
Christus-Impuls und die Christus-Wesenheit mit der Erde dadurch
in eine Beziehung treten werde, daft sie sich noch einmal oder viel-
leicht noch ofter in einen physischen Leib, in einen materiellen Leib
hinein verkorpern werde. Statt sich Klarheit dariiber zu verschaffen,
dafi die Menschen hinaufwachsen werden mit ihren Fahigkeiten, um
in grofierer Anzahl, und zuletzt alle, das Ereignis von Damaskus zu
erleben, das heifit, den Christus in der Erdenatmosphare zu erleben,
ihn im Atherleibe zu schauen, statt dessen hat man immer geglaubt,
der Christus werde wieder heruntersteigen in einen physischen Leib,
damit er befriedigen konne den materialistischen Sinn der Men-
schen, die nicht glauben wollen an den Geist, an das, was Paulus ge-
sehen hat in dem Ereignis von Damaskus: Der Christus ist in der Er-
denatmosphare, er ist immer da! «Ich bin bei euch alle Tage bis an
der Welt Ende!» - Wer sich durch die Methoden des Hellsehens hin-
aufentwickelt zum Schauen in der geistigen Welt, der findet das, was
in der vorchristlichen Zeit nicht zu finden war in den geistigen Wel-
ten: den Christus in seinem Atherleibe. Das ist der wichtige Fort-
schritt in der Menschheitsentwickelung, dafi noch bevor die erste
Halfte unseres Jahrhunderts abgelaufen sein wird, bei vielen Men-
schen sich wie auf naturliche Art jene Fahigkeit entwickeln wird,
durch die sie das Ereignis von Damaskus zu einer personlichen Er-
fahrung machen und den Christus in seinem Atherleib schauen wer-
den. Nicht heruntersteigen ins Fleisch wird der Christus, sondern
hinaufsteigen werden die Menschen, wenn sie sich Verstandnis fur
den Geist erworben haben.
Das bedeutet das Wiederkommen des Christus in unserem Zeital-
ter, weil in diesem 20. Jahrhundert die Menschen sich herausarbeiten
miissen aus dem Kali Yuga zu einem hellseherischen Zeitalter, zu
dem die ersten Keime gelegt werden miissen in diesem Jahrhundert.
Hinaufsteigen werden die Menschen durch die Fahigkeiten, die da
kommen werden, zu dem Christus, der da ist, und der gesehen wer-
den kann von der Vorhut derjenigen Menschen, die durch die an-
throposophische Verkiindigung zu dem gefuhrt werden, was im
Laufe der nachsten 2500 Jahre mehr oder weniger alle Menschen-
seelen erleben werden.
Das ist das grofie Ereignis, was der Menschheit fur die nachste Zu-
kunft bevorsteht, dafi wiederum gotterfiillt sein werden diejenigen,
die sich jetzt mit vollem Ich-Bewufksein hinauferheben zum atheri-
schen Sehen des Christus in seinem Atherleib. Dazu mufi aber der
materialistische Sinn griindlich iiberwunden werden und die
Menschheit Verstandnis gewinnen fur spirituelle Lehren, fiir spiritu-
elles Leben.
In den verflossenen Jahrhunderten war es verhaltnismafiig un-
schadlich, wenn die Menschen aus dem Materialismus immer wieder
irregefuhrt werden konnten in bezug auf das sogenannte Wieder-
komrnen des Christus. Gerade in Zeiten, in denen in geringerem
Mafie eine Ubergangszeit vorhanden war, wo sich vorbereitete, was
heute als materialistischer Sinn auf einem Hohepunkt angelangt ist,
da wurde zum Beispiel in weiten Kreisen Frankreichs verkundet,
dafi im Jahre 1137 ein Messias erscheinen werde. Ein Messias ist da-
zumal auch aufgetreten, der aber die Menschen irregefuhrt hat, weil
der Glaube an ihn herausgeboren war durch den materialistischen
Sinn, weil man glaubte, der Messias miifite im Fleische erscheinen.
Dreifiig Jahre friiher erschien ein anderer Messias in Spanien; auch
da wurde prophetisch vorherverkiindet, es wiirde ein Messias im
Fleische erscheinen. Und ungefahr um dieselbe Zeit erschien ein an-
derer neuer Messias in Nordafrika. Auch da war prophezeit worden,
er werde von Osten kommen und im Fleische erscheinen. Und die
ganze Zeit iiber, wo der materialistische Sinn sich vorbereitet hat da-
durch, dafi die hochsten Dinge von ihm ergriffen wurden, erschie-
nen derartige prophet ische Vorhersagungen, die durchaus fiir den,
der die Zeiten kennt, etwas Bekanntes sind, bis hinein in das 17.
Jahrhundert, wo weit und breit gepredigt wurde, es werde eine Art
Christus, ein Messias, erscheinen, Das fand wiederum Glauben bei
dem materialistischen religidsen Sinn der Menschen. Daher konnte,
fufknd auf dieser Prophezeihung, ein falscher Messias im Jahre 1667
in Smyrna auftreten, mit dem Namen Schabbathai Zewi. Er schrieb
damals von Smyrna aus Episteln und Briefe, welche die Welt ebenso
erschiitterten, trotzdem sie gar nichts waren als triigerische Dinge,
weil sie im materialistischen Sinne gehalten waren als triigerische
Dinge, weil sie im materialistischen Sinne gehalten waren, wie einst-
mals die Paulus-Briefe die Welt erschiitterten. Im 17. Jahrhundert
verbreitete sich von Smyrna aus die Kunde: Es lebt dort ein Messias
im Fleisch! - Und Schabbathai Zewi der «Gerechte Gottes», wurde
so angesehen, dafi man sagte, es werde jetzt die ganze Weltenzeit-
rechnung eine ganz andere Gestalt annehmen: Er wird mit seinen
Getreuen durch die Welt ziehen, und an ihn sollen glauben alle, die
die Wahrheit sehen wollen, die den Christus im Fleische sehen wol-
len! - Gepredigt wurde ihnen, dafi sein physischer Geburtstag als
das groike Fest der Menschheit und der Erde gefeiert werden miisse!
Ganze Scharen von Menschen pilgerten dahin, nicht nur aus Asien
und Afrika, sondern auch aus Polen, Rutland, Spanien, Frankreich
und so weiter. Ganze Ziige von Wallfahrern gingen nach Smyrna zu
Schabbathai Zewi, der als Christus im Fleische auftrat, bis die Sache
einen zu grofien Umfang annahm und Schabbathai Zewi vom Sultan
gefangen gesetzt wurde. Da sagten die Leute: Das ist nur die Erful-
lung einer Prophezeiung, denn es ist vorhergesagt, dafi er neun Mo-
nate in Gefangenschaft sitzen werde. - Da wufite der Sultan sich
nicht anders zu helfen, als dafi er Schabbathai Zewi unbekleidet auf-
stellen liefi und sagte: Ich will an dir erproben, ob du wirklich ein
Messias, ein Christus im Fleische bist, ich will nach dir schiefien las-
sen! - Und da gestand endlich Schabbathai Zewi, dafi er nur ein ge-
wohnlicher Rabbi sei.
Solche Versuchungen gehen hervor aus dem materialistischen Sinn
unserer Zeit. Und dergleichen wird wiederkommen, denn den mate-
rialistischen Sinn werden die Menschen benutzen. Es wird oft und
oft in den nachsten Jahrzehnten gesagt werden, was jetzt ausgespro-
chen worden ist, daft sich die menschlichen Fahigkeiten bis zum
atherischen Anblick des Christus hinaufentwickeln werden, an des-
sen Realitat die Menschen dann ebenso sicher glauben konnen, wie
Paulus selbst daran geglaubt hat! Das ist die nachste Zukunft der
Menschheit, zu der heute die Geisteswissenschaft die Menschen vor-
bereiten soli. Aber es wird durch den materialistischen Sinn der
Menschen auch die Zeit der starken Versuchung kommen, wo fal-
sche Messiasse wieder erscheinen werden im Fleische. Dann wird es
sich zeigen, ob die Theosophen die Theosophie richtig verstanden
haben werden! Die sie nicht richtig verstanden haben, die werden
vom materialistischen Sinn so durchkrankelt sein, daft sie der Versu-
chung verfallen werden. Trotzdem sie an den Christus glauben, wer-
den sie an einen Christus im Fleische glauben. Die aber, welche Ver-
standnis fiir wirkliches geistiges Leben gewonnen haben, die werden
verstehen, dafi das «Wiederkommen des Christus» in unserem Jahr-
hundert, als das grofite Ereignis, bedeutet: Der Christus kommt zu
den Menschen im Geiste, weil die Menschen durch ihre Entwicke-
lung zum Geistigen hin sich bis zum Christus entwickelt haben!
Und dadurch erfahrt in unserem Jahrhundert die Bergpredigt eine
vollige Modifikation. Alles wird sozusagen neugestaltet werden.
Gotterfullt oder selig werden die sein, die durch ihr Betteln um
Geist in den verflossenen Inkarnationen so weit gekommen sein
werden, dafi sie hinaufgestiegen sein werden in jene Region der Rei-
che der Himmel, wo ihnen der Christus vor das geistige Auge tritt!
So konnte jeder einzelne Satz der Bergpredigt in seiner neuen Ge-
stalt in diesem Sinne wiedergegeben werden. Das Christentum wird
nur seine Urkunden wiedererobern konnen, wenn man es lebendig
erfafit, wenn man weifi, dafi es kein Totes, sondern ein Lebendiges
ist. In jener Zeit - und es ist unsere Zeit — , in der sozusagen die ma-
terialistische Forschung dem Menschen das Evangelium und die
Uberlieferung von dem Christus nimmt, wird, das ist oft betont
worden, die geistige Forschung die Evangelien den Menschen wie-
dergeben. Das ist ein Zusammentreffen, das nicht zufallig, sondern
notwendig ist. Mogen in unserer Zeit, weil ihr materialistischer
Sinn, der bis ins hochste gestiegen ist, an eine Krisis gekommen ist,
immerhin gewisse arme Menschen auftreten, die aus einer irregelei-
teten Philosophic zu der sonderbaren Anschauung kommen kon-
nen, daft es Wirkungen ohne Ursachen gibt, dafi es keinen histori-
schen Christus Jesus gegeben hat; das ist etwas, was dem Anthropo-
sophen begreiflich sein soil. Er soil mit einem gewissen Mitleid sogar
zu blicken wissen auf jene armen Menschen, die trotz ihrer Philoso-
phic so in den materialistischen Sinn hineinverstrickt sind, daft sie
sich iiberhaupt die Fahigkeit abgewohnt haben, den Geist zu ahnen
und daher immerfort dem Satz, den sie sonst immer zugeben, ins
Gesicht schlagen: Es gibt keine Wirkung ohne Ursache. Das Chri-
stentum als Wirkung kann nicht da sein ohne Ursache! Anthroposo-
phie wird es sein, die den Menschen aus der Geistesforschung heraus
den Christus in jener Gestalt, in der er lebendig ist, lehren wird,
werin diese Menschen diesen Lehren nur Verstandnis entgegenbrin-
gen wollen, Verstandnis selbst so weit, dafi man klar erkennt: Der
Christus wird wiederkommen, aber in einer hoheren Realitat, als die
physische ist, in einer solchen Realitat, zu der man nur wird auf-
schauen konnen, wenn man sich erst den Sinn und das Verstandnis
fur das geistige Leben wird erworben haben.
Schreiben Sie sich in Ihr Herz, was Anthroposophie sein soil: eine
Vorbereitung fur die grofie Epoche der Menschheit, die uns bevor-
steht. Lassen Sie es sich dabei nicht als etwas Wesentliches erschei-
nen, ob die Seelen, die heute hier verkorpert sind, dann noch im
physischen Leibe verkorpert sein werden, wenn der Christus in der
geschilderten Weise wiederkommt, oder ob sie bereits durch die
Pforte des Todes gegangen sind und in jenem Leben stehen, das zwi-
schen Tod und der neuen Geburt ablauft. Denn was im 20. Jahrhun-
dert geschieht, hat eine Bedeutung nicht nur fur die physische Welt,
sondern fur alle Welten, mit denen der Mensch in Beziehung steht.
Und ebenso wie die Menschen, die verkorpert sein werden zwischen
den Jahren 1930 und 1950, erleben werden das Hinaufschauen zu
dem atherischen Christus, ebenso wird ein gewaltiger Umschwung
eintreten in der Welt, in der der Mensch lebt zwischen Tod und Ge-
burt. Gerade so wie der Christus nach dem Mysterium von Golga-
tha heruntergestiegen ist in die Reiche der Unterwelt, so gehen die
Wirkungen der Ereignisse, die in unserer Zeit geschehen fur die Be-
wohner des physischen Planes, hinauf in die geistigen Welten. Und
den Menschen, die sich nicht durch Geisteswissenschaft vorbereiten
werden auf das grofie Ereignis, denen entgeht in jener Zeit das Ge-
waltige, das sich auch vollziehen wird in den geistigen Welten, in de-
nen der Mensch dann lebt. Diese Menschen miissen dann warten bis
zu einer neuen Verkorperung, urn dann auf der Erde zu erfahren,
was sie fahig macht, den neuen Christus-Impuls zu empfangen.
Denn zu alien Christus-Impulsen, wenn sie uns auch noch so hoch
hinauftragen, miissen wir uns die Fahigkeit erringen auf dem physi-
schen Plan. Nicht umsonst ist der Mensch so in die physische Welt
hinunterversetzt worden: Hier miissen wir uns das aneignen, was
zum Verstandnis des Christus-Impulses fiihrt! Fur alle Seelen, die le-
ben, ist Geistesforschung die Vorbereitung auf das Christus-Ereig-
nis, das uns in der nachsten Zukunft bevorsteht. Diese Vorbereitung
ist notwendig. Und auf dieses Christus-Ereignis werden in den Vor-
gangen der Menschheitsentwickelung andere folgen. Daher wird es
gerade ein wichtiges Versaumnis sein fur die Menschen, die sich
nicht zu dem Christus-Ereignis erheben wollen in unserem Jahrhun-
dert, wo sie dazu Gelegenheit haben.
Wenn wir so die Geisteswissenschaft betrachten und uns in die
Seele schreiben, dann erst fiihlen wir, was sie jeder einzelnen
Menschenseele ist, und was sie sein soil der gesamten Menschheit.
FUNFTER VORTRAG
Berlin, 9. Marz 1910
Mit dem heutigen Vortrag soil eine Art Zusammenfassung dessen ge-
geben werden, was wir in den verschiedenen Wintervortragen ge-
hort haben, was wir anschliefien konnten an die Betrachtungen im
Hinblick auf das Lukas-Evangelium und das Matthaus-Evangelium,
und was hier referierend mitgeteilt worden ist in Anknupfung an die
Vortrage iiber das Johannes-Evangelium, wie sie zuletzt in Stock-
holm gehalten worden sind. So wie diese Vortrage gehalten worden
sind, wird es Ihnen klar geworden sein, dafi alles in ihnen so angelegt
worden ist, daft man nicht etwa im eingeschrankten Sinne eine Evan-
gelien-Erklarung hat, sondern dafi aus den Wahrheiten, die nun er-
stens schon einmal Wahrheiten sind und zweitens sich bei einem
richtigen Verstandnis der christlichen Urkunden in den Evangelien
finden, sich immer herausstellt, dafi uns auch die anderen Ratsel des
Lebens in der mannigfaltigsten Weise von ihnen aus gedeutet und er-
leuchtet werden konnen.
Wenn wir zuruckgehen hinter die Begriindung des Christentums,
finden wir zwei Arten, zwei Formen der Initiation: die Initiation des
Nordens, die in jenen in Stockholm gehaltenen Vortragen naher
charakterisiert worden ist, und die Initiation des Siidens, die beson-
ders dadurch charakterisiert worden ist, dafi angeknupft worden ist
an die Initiationsvorgange der altagyptischen Kultur. Von zwei
Seiten her haben sich fur den Menschen der alten Welt die Moglich-
keiten ergeben, in die geistige Welt einzudringen. Wenn der zu Initi-
ierende im alten Agypterlande die geistige Welt hat erreichen wol-
len, so stieg er herunter in die Untergriinde der eigenen Seele, stieg
herunter hinter all das, was im gewohnlichen Seelenleben als Gedan-
ke, Gefiihl, Wollen und so weiter vorhanden ist. Dort fand er das,
woraus die Seele selbst hervorgegangen ist: das gottlich-geistige
Dasein der Welt. Also ein Heruntersteigen unter diejenigen Regio-
nen der Seele, die vom Ich durchglanzt und durchdrungen sind, war
das Wesentliche der agyptischen oder der siidlichen Initiation iiber-
haupt. Dagegen war ein Heraustreten des Menschen, ein Aufgehen
in den Erscheinungen der Welt in ekstatischer Art dasjenige, worauf
es in der nordlichen Initiation, vor allem in den germanischen Drui-
den- und Trottenmysterien, ankam. Dann wurde auch schon cha-
rakterisiert, wie in dem, was wir die christliche Initiation nennen,
diese zwei Arten der Initiation zusammengeflossen sind, und wie
gleichsam die christliche Initiation die hohere Einheit darstellt der
ekstatischen Initiation des Nordens und der mystischen Versenkung
bei der Initiation des Siidens. Damit aber ist auf einen tiefen Grund
der Weltengeheimnisse hingewiesen, der durch alles Dasein geht. Im
Grunde ist alles Besprechen, selbst einer so grofien gewaltigen Tatsa-
che wie das Zusammenfliefien der beiden Initiationsformen des Al-
tertums in die christliche Initiation, ein Beispiel fur ein noch umfas-
senderes gro&es Gesetz, das alles Dasein der Menschen durchdringt
und zu gleicher Zeit alles Dasein der aufteren Welterscheinungen, so-
weit es der Mensch erkennen kann, durch webt. Das findet sich nam-
lich iiberall, dafi uns entgegentreten wie Gegensatze die Glieder
einer Zweiheit. Diese Glieder einer Zweiheit sehen wir wie Gegen-
satze sich gegeniibertreten in der nordlichen und in der siidlichen In-
itiation. Das ist nur ein Beispiel dafiir, wie Gegensatze, man konnte
auch sagen Polaritaten, uns im Weltendasein entgegentreten. Und
das andere, wie diese beiden Initiationsformen zusammenstromen
und gleichsam eine geistige Ehe eingehen in der christlichen Initia-
tion, ist ein Beispiel dafiir, wie Gegensatze, uberhaupt Zweiheiten in
der Welt, sich vereinigen. Das geschieht unaufhorlich, dafi sich Ein-
heiten in Zweiheiten teilen, um die Entwickelung weiterzufordern,
und dafi sich Zweiheiten wiederum zur Einheit vereinigen. In aufier-
licher Weise konnten wir hindeuten zunachst auf eine grofte, gewal-
tige, gleichsam iiber die Menschheitsentwickelung hin reichende
Tatsache, die diese Spaltung einer Einheit in die Zweiheit und der
Wiederzusammenstromung der Zweiheit in die Einheit darstellt.
Wir haben ofter hineingeleuchtet in das lemurische Zeitalter, das
unter anderem auch die grofie Tatsache der Weltenentwickelung ge-
sehen hat, da der Mond sich aus unserer Erde herausspaltete. Aber es
sah dieses Zeitalter auch noch die ersten Anfange dessen, was wir im
heutigen Sinne der Menschheitsentwickelung den Gegensatz von
Mann und Weib nennen; wahrend wir in den der lemurischen Zeit
vorangehenden Weltenaltern eine Einheit der Geschlechter finden
wiirden. So haben wir eine urspriingliche Einheit auseinandertre-
tend in Mann und Weib. Wir haben aber auch schon darauf hinge-
deutet, dafi in der Zukunft diese Zweiheit sich wiederum in der Ein-
heit vereinigen werde, daft wiederum eine Einheit aus dieser Zwei-
heit entstehen werde. Das ist in aufierlicher Weise die Andeutung
von umfassenden Tatsachenreihen, die in dieser Beziehung der Zwei
zur Eins oder der Eins zur Zwei liegen.
Was uns so in der Menschheitsentwickelung entgegentritt, ist aber
im Grunde der Ausdruck, die Abbildung eines noch grofieren kos-
mischen Gegensatzes, der in einer Einheit wurzelt, als Zwei uns im
heutigen Weltenleben entgegentritt und in einer fernen Zukunft sich
wieder in eine Einheit auflosen wird. Es ist notwendig, dafi wir jeden
Gedanken, der uns durch Geisteswissenschaft heute gegeben wird,
in seiner vollen Tiefe nehmen, dafi wir uns nicht angewohnen, die
anthroposophischen Gedanken in derselben oberflachlichen Art
hinzunehmen, wie andere Gedanken und Begriffe, die heute durch
die Welt schwirren und die durch das Hastende und Oberflachlich-
Banale unserer gegenwartigen Kultur hingenommen werden. Die an-
throposophischen Gedanken mussen so tief wie moglich genommen
werden. Daher darf auch ein solcher Gedanke, wie er ofter ausge-
sprochen wird und gleichsam verborgen liegt in alien unseren Leh-
ren: dafi der Mensch als eine kleine Welt, als Mikrokosmos herausge-
boren ist aus dem Makrokosmos, aus der grofien Welt, nicht blofi als
ein abstrakter Gedanke leicht hingenommen werden, sondern dieser
Gedanke hat unendlich vielen, hundert- und hundertfachen Inhalt.
Vor allem mufi man sich dariiber klar sein, dafi die Welt tiefer ist, als
man gewohnlich glaubt, und dafi, wenn man einen Gegensatz oder
eine Wahrheit einmal in einer Richtung begriffen hat, man keines-
wegs die letzte Wahrheit iiber diese Beziehung oder diesen Gegen-
satz begriffen hat, sondern man mufi geduldig uberall Umschau
halten, um, wenn etwas nach der einen Seite gilt, es auch kennen-
zuiernen nach der anderen Seite.
Der Mensch ist aus dem ganzen Kosmos herausgeboren und mufi
aufschauen zu dem Kosmos wie zu seinem Mutter- Vaterwesen, von
dem er selbst ein Abbild darstellt. Ja, der Mensch ist ein Abbild der
ganzen Welt, die ihm bekannt sein kann; und es ist nichts im
Menschenwesen, was nicht in irgendeiner Art ein Verhaltnis zum
Ausdruck bringen wiirde, das sich nicht auch irgendwie im groften
Kosmos findet. Wenn wir den Menschen, wie er uns heute entgegen-
tritt - und zwar geisteswissenschaftlich gesehen entgegentritt -,
vergleichen konnten mit Menschengestaltungen in einer verhaltnis-
maftig sehr friihen Zeit, dann fanden wir an diesem heutigen Men-
schen ein Merkmal von ungeheurer Bedeutung, neben anderen na-
turlich, zur Aufklarung iiber das Wesen des Menschen. Dieses Merk-
mal kann jeden von uns lehren, daft es bei dem, was wir iiber die
Welt wissen, nicht nur darauf ankommt, daft die Dinge wahr sind,
sondern noch auf etwas ganz anderes. Damit, daft uns jemand bewie-
sen hat, daft etwas wahr ist, hat er uns noch nicht das allerwichtigste
Moment dieser Wahrheit enthiillt. Es ist zum Beispiel vieles wahr
von dem, was eine triviale Naturwissenschaft sagt iiber den Ver-
gleich des Menschen mit den hoheren S'augetieren. Daft der Mensch
dieselbe Anzahl Knochen und Muskeln hat und dergleichen Dinge
mehr, sind wahr, unbestreitbar wahr. Aber wenn man von irgendei-
ner Sache bewiesen hat, daft sie wahr ist, hat man noch nicht alles ge-
tan. Es muft gerade der Mensch durch geisteswissenschaftliche Ver-
tiefung und Verinnerlichung sich klarmachen, daft es darauf an-
kommt, sich bei jeder Wahrheit ein Gefuhl dafur zu erwerben, wie
schwer die Wahrheit wiegt, ob sie wichtig oder unwichtig, wesent-
lich oder unwesentlich ist zur Erklarung einer Sache. Daher kann es
heute Leute geben, die kommen und uns aus ihrem trivialen Be-
wufttsein heraus immer wieder beweisen, daft es ja wahr ist, was sie
sagen. Das soli auch nicht bestritten werden. Aber ob etwas fur die
Welterklarung in seinem richtigen Gewichte erkannt wird, darauf
kommt es an!
Nun gibt es eine gewisse Tatsache, die unzweifelhaft wahr ist und
die jeder kennt, weil sie jedem taglich unzahlige Male begegnet, und
die wir, wenn wir ihre Bedeutung und Wichtigkeit fur den Men-
schen, ihr Gewicht fassen wollen, nur in der richtigen Weise fiihlen
miissen, namlich die Tatsache, dafi der Mensch ein aufrechtstehen-
des und aufrechtgehendes Wesen ist und mit seinem Antlitz in den
Weltenraum hinaufschauen kann. Das kann nur der Mensch! Denn
selbst von dem Affen miissen wir sagen, er sieht so aus, als wenn er
sich um diese Mdglichkeit bemiiht hatte, aber er hat die Geschichte
verpfuscht. Er kann es nicht. Der Mensch ist die einzige Wesenheit,
die in bezug auf diese Absicht zu Ende gekommen ist, das Antlitz
frei in den Weltenraum hinaufheben zu konnen. Diese Tatsache ist
unendlich viel wichtiger als alles, was uns durch eine triviale Natur-
wissenschaft liber die Stellung des Menschen in der Tierreihe gesagt
werden kann. Alles andere ist ja wahr, aber dieses ist unendlich viel
wichtiger. Wer etwas von dieser Tatsache fiihlen will, mufi sich da-
mit bekanntmachen, wo die Veranlassung liegt, dafi der Mensch ein
aufrechtgehendes Wesen ist, ein Wesen, das zwar an die Erde gebun-
den ist, sich aber im Geiste durch seine Anschauung, schon durch
seine sinnliche Wahrnehmung hinauserhebt in den Weltenraum.
Diese Veranlassung liegt darin, dafi es einen gewissen Gegensatz
gibt, eine Zweiheit, die sich im Kosmos so verhalt wie eine andere
Zweiheit im Menschen. Wir konnen hinweisen auf eine Zweiheit im
Weltall und eine Zweiheit im Menschen wie auf zwei Gegensatze,
die sich im Mikrokosmos und Makrokosmos entsprechen. Der Ge-
gensatz, der im Makrokosmos, in der grofien Welt gemeint ist, ist
der Gegensatz von Sonne und Erde; und derselbe Gegensatz, der
zwischen Sonne und Erde im Weltall besteht, besteht auch im Men-
schen: es ist der Gegensatz zwischen Kopf und Handen und Fiifien,
zwischen Kopf und Gliedmafien. Diese Dinge werden im Laufe der
Zeit immer mehr und mehr ausgefiihrt werden, aber Sie miissen sich
damit zunachst einmal andeutungsweise bekanntmachen und fiihlen
lernen, dafi in gewisser Beziehung Kopf und Gliedmafien als eine
Zweiheit im Menschen sich so verhalten, wie sich Sonne und Erde in
unserem Sonnensystem selber verhalten. Denn in der Tat ruhen in
unserer Erde die Krafte, welche sich im Laufe der Zeit herausgebil-
det haben, geheimnisvolle Krafte, die den Menschen auf der Erde be-
festigen und die gegenwartige Konfiguration und Bewegungsmog-
lichkeit unserer Hande und Fiifie bewirkt haben, wahrend die Kraf-
te, die sein Antlitz in den Weltenraum hinausgehoben haben, die ihn
von einem Wesen, das die Erde anschaut, zu einem solchen gemacht
haben, das in die unendlichen Weltenfernen hinausblicken kann, in
der Sonne ihren Sitz haben. Und wer fiihlen und empfinden kann,
der fiihlt und empfindet, wenn er die beim Menschen auftretende
Gegensatzlichkeit von Kopf und Gliedmafien anblickt, dasselbe, als
wenn er auf seine Empfindung wirken lafit den Gegensatz von Son-
ne und Erde. Das ist ein solcher Gegensatz, der sich spater einmal im
Menschenleben vereinigen wird, wie er sich im Kosmos vereinigen
wird. Wie einst die Sonne und die Erde ein Wesen waren und sich
getrennt haben, eine Zweiheit geworden sind, ebenso werden sie
sich wieder vereinigen. Ebenso wird, was im Menschen Gegensatz
ist zwischen Kopf und Gliedmafien, wiederum einmal eine Einheit
werden, so schwer das vielleicht auch fur den heutigen Menschen,
der solcher Begriffe ungewohnt ist, vorzustellen ist.
So haben wir im Menschen hingedeutet auf einen Gegensatz und
den entsprechenden Gegensatz im Weltall angefuhrt. Aber im Men-
schen finden sich noch andere Gegensatze, die auch ihre entspre-
chenden Gegenbilder im Weltall haben. In bezug auf den Gegensatz
zwischen Kopf und Gliedmafien sind auf unserer Erde sozusagen alle
Menschen gleich. Mann und Frau haben diesen Gegensatz in glei-
cher Weise. Darin gibt es keinen Unterschied zwischen Mann und
Frau, denn alles, was sonst als Gegensatz auftritt, zum Beispiel in der
Seelenkonfiguration wird nicht durch diesen Gegensatz bewirkt.
Wenn bloft dieser Gegensatz im Mikrokosmos und Makrokosmos
bestande, wiirden Mann und Frau uberhaupt gleich sein. Aber Mann
und Frau sind ein anderer Gegensatz im Menschen wesen. Und nun
konnen wir uns fragen: Konnen wir im Weltall auch einen Gegen-
satz finden, der im Menschenleben entspricht dem Gegensatz von
Mann und Frau? Ist dieser Gegensatz, der im Erdendasein als Mann
und Frau auftritt, auch herausgeboren aus dem Weltall? - Auch das
gibt es. Und um diesen Gegensatz aufzusuchen, miissen wir uns jetzt
ein wenig bekanntmachen im okkulten Sinne mit dem Gegensatz
von Mann und Frau. Wir werden dabei nicht in den Fehler verfallen,
in den unser materialistisches Zeitalter verfallt, das darauf ausgeht,
den Gegensatz des Mannlichen und Weiblichen, wie er einfach als
Geschlechtsgegensatz in der physischen Welt auftritt, auch auf das
ganze Weltall anzuwenden. Das ist nicht nur eine Trivialitat, son-
dern eine Ungezogenheit unserer Gelehrsamkeit, wenn sie das, was
uns auf einem Gebiete entgegentritt, hinauserstreckt auf alle anderen
Gebiete.
Was sich auf unserer Erde als der Gegensatz von Mann und Frau
manifestiert, dem entspricht im Weltall ein anderer Gegensatz, den
wir nicht mannlich und weiblich nennen konnen. Das ware ein Un-
ding. Aber wir miissen doch diesen Gegensatz einmal gerade in be-
zug auf seine okkulte Grundlage vor unser Auge treten lassen. Die-
ser Gegensatz des Mannlichen und des Weiblichen in unserer Erden-
entwickelung hat natiirlich, wohlgemerkt, nichts zu tun mit dem
«Menschen», der Mensch ist in Mann und Frau derselbe. Wenn man
also von Mann und Frau spricht, bleibt man bei der Konfiguration
von physischem Leib und Atherleib stehen, das hat nichts zu tun
mit dem Innern des Menschen, so daft man nicht im okkulten Sinne
so sprechen darf, wie heute in unserer materialistischen Zeit gespro-
chen wird. Denn Mann und Frau haben auch einen astralischen Leib
und ein Ich, wahrend die gewohnliche Anschauung iiberhaupt
nichts kennt von dem, was den Menschen zum Menschen macht,
und daher auch nur von Mann und Frau sprechen kann. Also wir
sprechen jetzt nicht vom Menschen als solchem in Mann und Frau,
sondern von dem, was den Menschen zum Mann oder zur Frau
macht, und das ist nur die aufiere Hiille. Das mufi wohl verstanden
werden. Wird von Mensch auf Mensch das angewendet, was in den
nachsten Satzen gesprochen wird, dann ist alles falsch. Der Gegen-
satz von Mann und Frau, in diesen Grenzen, liegt in folgendem.
Die auftere menschliche Gestalt war ja ganz anders in den Urzeiten
der Menschheit. Die gegenwartige Menschengestalt, also auch die ge-
genwartige mannliche beziehungsweise weibliche Gestalt haben sich
erst herausgebildet aus einer fruheren einheitlichen Gestalt, die noch
nicht in den Gegensatz von Mann und Frau auseinandergefallen war.
So haben wir also eine friihere Einheit und den heutigen Gegensatz
von Mann und Frau. Nun wissen wir auch, dafi die friihere Einheit
eine feinere, geistigere war. Der Mensch hat sich zu der dichten ma-
teriellen Gestalt erst im Laufe der Zeit herausgearbeitet. Wir gehen
also nicht blofi zuriick zu einer Einheit der Gestaltung, sondern
auch zu einer Einheit, die gegen die heutige Gestalt eine geistigere
war. Wir haben also einen Urmenschen, der sich weder als Mann
noch als Weib darstellt, sondern als die noch nicht eingetretene
Trennung dieses Gegensatzes, als die Einheit, und der feiner, atheri-
scher, geistiger ist als der spatere materiellere Mensch, der sich in
dem Gegensatz von Mann und Frau auslebt. Worauf beruht es nun,
dalS aus der urspriinglichen Einheit spater Mann und Frau entstan-
den ist? Das beruht darauf, daft die Frau, als die Einheit in die Zwei-
heit trat, einen physischen Leib sich herausgebildet hat, der nicht
vollstandig aus der friiheren Gestalt in die, wenn wir so sagen kon-
nen, normale materielle Gestalt iibergegangen ist. Der Frauenleib ist
auf einer geistigeren Stufe stehengeblieben, ist nicht bis zum vollen
Mafie des Materiellen heruntergestiegen. Er ist zwar materiell, dicht
geworden, aber er hat in dieser Materialitat eine friihere, geistigere
Gestalt festgehalten. Es ist also eine geistige Stufe materiell gewor-
den. Der Frauenleib hat gleichsam zuriickgehalten eine friihere
geistige Gestalt, ist nicht vollstandig in die Materie heruntergestie-
gen. Das ist er zwar in bezug auf das Materielle, aber nicht in bezug
auf die Form. Er hat sich die Form, die der Mensch friiher gehabt
hat, bewahrt. Daher konnen wir sagen: Die Frau stellt sich dar als
die Offenbarung einer friiheren Gestaltung, die eigentlich geistig
sein sollte und so, wie sie sich heute darstellt, eigentlich falsch ist,
eine Maja, eine Illusion ist. Wenn wir einen gewissen springenden
Punkt in der Entwickelung annehmen wiirden, auf dem sich das Ma-
terielle kristallisiert, so konnen wir sagen: Die Frau ist nicht bis zu
diesem springenden Punkt vorgedrungen, sie hat eine friihere Ge-
stalt kristallisiert. Daher ist fiir den, der die Tatsachen des Lebens
wirklich empfindet, oder imaginativ erkennen kann, der menschli-
che Frauenleib nur in bezug auf Kopf und Gliedmaften einigerma-
fien eine wahre Gestalt, ein Ausdruck seines ihm zugrunde liegenden
Geistigen, das heifit nur in Kopf und Gliedmafien driickt sich etwas
aus, was als materielle Erscheinung dem dahinterliegenden Geistigen
ahnlich ist. Daher ist das dahinterliegende Geistige un'ahnlich der
iibrigen materiellen Gestalt, denn diese ist eine falsche Gestalt.
So also gilt der Satz, daft die Welt Maja ist, bis in alle Regionen hin-
ein. Man mufi ihn wirklich ernst nehmen. In abstracto zu denken,
die Welt ist Maja, ist bequem. Derjenige hat erst diesen Satz begrif-
fen, der damit Ernst macht und fragt: Inwiefern sind nun diese Ge-
stalten Illusion? - Die einen sind es mehr, die anderen weniger. Es
gibt Gestalten, die wenigstens annahernd, im aufieren Gleichnis, das
dahinterliegende Geistige ausdriicken: das sind Kopf und Gliedma-
fien; aber es gibt Gestalten, welche direkt falsch sind, die verzeichnet
sind, und dazu gehort die ubrige Leiblichkeit des Menschen. Die ist
direkt verzeichnet. Und wenn einmal die Welt dies verstehen wird,
wird man nicht mehr so toricht reden wie heute, sondern man wird
sehen, dafi es ein gewisses tieferes, feineres kiinstlerisches Empfinden
gibt, das sich selber sagt, daft die Frauengestalt verzeichnet ist, wenn
man von Kopf und Gliedmaften absieht, und dafi man sie korrigie-
ren mufi, wenn man sie kunstlerisch wiedergeben will. In besseren
kiinstlerischen Zeiten hat man das auch wirklich durchgefuhrt, denn
keiner, der wirklich Formen betrachten kann, kann sich der Ein-
sicht verschliefien, dafi bis zu einem gewissen Grade die Formen
korrigiert sind an der Venus von Milo. Das sehen nur gewohnlich
die Menschen nicht.
Also wir haben hier den Menschen zerteilt in Glieder, die wahrer
sind, weniger Illusion sind, und in solche, die mehr Illusion sind, die
ganz verzeichnet sind. Aber das gilt nicht nur von der Frau. Fur den
Mann ist die Sache nur umgekehrt. Es ist der Gegensatz. Wie die
Frauenform nicht bis zu dem normalen Punkt heruntergestiegen ist,
um den entsprechenden Geist in der Materie auszudriicken, sondern
sich auf einer friiheren Stufe kristallisiert hat, so hat der mannliche
Leib den normalen Punkt iibersprungen und ist gerade so weit dar-
iiber hinausgegangen, als die Frauenform davor stehengeblieben ist.
Daher ist der mannliche Leib tiefer heruntergestiegen in die Materia-
list, als es das normale Verhaltnis gewesen ware, und stellt das auch
schon in seiner aufieren Gestalt dar. Er wiirde ganz anders aussehen,
wenn er nicht den mittleren Punkt ubersprungen hatte. Der
menschliche Leib ist iiberhaupt nur in bezug auf Kopf und Gliedma-
fien wenigstens annahernd eine Wahrheit. In bezug auf die iibrige
Gestalt aber miissen wir sagen, dafi der Frauenleib auf einem gewis-
sen Punkte stehen geblieben ist, sich verfestigt hat, bevor er sich in
die Wellen des materiellen Daseins hineingestiirzt hat, und uns daher
eine ganz andere Gestalt zeigt, als diejenige ware, wenn er sich kri-
stallisiert hatte, als ihn die Wellen des materiellen Daseins beriihrt
haben; der mannliche Leib aber ist noch weiter untergetaucht und
stellt in demselben Mafie eine falsche, verzeichnete Gestalt dar wie
der Frauenleib. So stellt der Frauenleib eine ins Geistige, der mannli-
che Leib dagegen eine ins Materielle verzeichnete Gestalt dar. Die
wahre Gestalt wiirde in der Mitte liegen, wiirde eine Durchschnitts-
gestalt von beiden sein.
Das beeinflufit naturlich in seinem Erdendasein den ganzen Men-
schen, insofern er eine physische Hulle hat. Mit dem Gegensatz zwi-
schen Kopf und Gliedmafien hat das nichts zu tun, aber es iibertragt
sich das, was jetzt gesagt worden ist, auf den ganzen Menschen in der
einzelnen Inkarnation zwischen Geburt und Tod. Man inkarniert
sich ja als Mann oder als Frau. Dadurch hat man mit dem zu rech-
nen, was sich als verzeichnet bei Mann oder Frau auslebt. Aber das
erstreckt sich auf den ganzen Menschen, und die Folge davon ist,
wenn man in einer Inkarnation einen weiblichen Leib hat, dafi die-
ser ganze weibliche Leib durchbeeinflufk ist von diesem mehr Zu-
riickgebliebensein in einem urspriinglicheren, weicheren Formzu-
stand. Und in einer mannlichen Inkarnation ist dieser ganze mannli-
che Leib durchfiltriert von einem Zu-stark-untergetaucht-Sein in die
grobe, feste Materie. Wenn man nur einmal im kleinsten Mafie den
Begriff davon bekommen hat, was es heifit, im Geiste denken, im
Geiste leben und den physischen Leib als ein blofies Werkzeug be-
nutzen, wenn man sich nicht so darinnen stecken fuhlt, dafi man
sich mit ihm identifiziert, dann kann man ein Lied singen gerade von
der Misere, einen mannlichen Leib, der naturlich auch sein Gehirn
infiltriert, in einer Inkarnation benutzen zu miissen. Denn man
merkt, dafi auch die Formen des Gehirns, weil sie derber in die Ma-
terie hineingegangen sind, schwerer zu handhaben sind als die wei-
cheren, nicht so stark in die Materie hineingegangenen Formen des
weiblichen Gehirns. Es ist in der Tat eine schwierigere Sache, wenn
man in die hoheren Welten hinaufsteigen raufi, sich ein mannliches
Gehirn zu trainieren, um die Wahrheiten in Gedanken umzusetzen,
als ein weibliches Gehirn. Daher ist es nicht zu verwundern fur
die Leute, die denken konnen, wenn eine Weltanschauung, die als
Neues in die Welt tritt, wie die geisteswissenschaftliche, leichter ver-
standen werden kann mit dem bequemer zu trainierenden weibli-
chen Gehirn als mit dem mannlichen Gehirn, dem es schwerer ist,
von gewissen Gedanken loszukommen, die es heute aufgenommen
hat, weil das mannliche Gehirn schwerer zu bearbeiten, schwerer zu
handhaben ist. Deshalb wird Geisteswissenschaft auch so schwer
Eingang finden bei den Mannern, die heute in der Welt Kulturtrager
sind und mit den gewohnlichen Kulturvorstellungen unseres heuti-
gen Lebens behaftet sind. Wir miissen es durchaus verstehen, was fiir
ein ungelenkes Ding das Gehirn eines Gelehrten ist, nicht nur, um
Geisteswissenschaft aufzunehmen, sondern um mit dem, was es aus
der Geisteswissenschaft aufnehmen kann, zu denken. Wir diirfen
aber die Sache nicht auf den Kopf stellen und daraus irgendwelche
Schlusse ziehen, oder hochstens den, daft wir es nun doch als etwas
um so Bedeutungsvolleres empfinden miissen, wenn nun recht viele
Manner ihr Gehirn so handhaben, dafi sie recht intim und nahe an
die Geisteswissenschaft herankommen. Diese Dinge konnen ja zu-
nachst nur angedeutet werden, aber wenn Sie dieselben auf sich
so wirken lassen und dariiber nachdenken, werden Sie ungeheure
Perspektiven fur das Menschenleben darinnen finden.
Wenn wir das Menschenleben in seinem Gegensatz von Mann und
Frau vor uns hinstellen, dann haben wir etwas, was wir ein auf einer
friiheren Stufe Stehengebliebenes nennen konnen, und etwas, was ei-
gentlich uber eine gewisse Stufe der Gegenwart hinausgeschritten ist,
was in einem gewissen karikierten Zustand eine zukiinftige Form in
die Gegenwart hereinnimmt, die eben daher karikiert erscheint.
Eine friihere Gestalt des Leibes hat konserviert das Weibliche und
eine spatere Gestalt hat hereingenommen das Mannliche und sie so
ausgebildet, wie sie in der Zukunft nicht sein darf. Daher ist der
mannliche Leib falsch geworden, weil er spatere Lebensbedingungen
in einen friiheren Lebenszeitraum hineingestellt hat.
Gibt es nun fur diesen Gegensatz des Mannlichen und Weiblichen
auch eine Entsprechung im Kosmos? Gibt es im Kosmos etwas, was
uns auf der einen Seite ein Dasein zeigt, eine Entwickelungsstufe, die
gleichsam friihere Formen festgehalten hat und hineingetragen hat
in ein spateres Dasein? Und gibt es auf der anderen Seite Formen, die
eine gewisse Stufe uberschritten haben, also in karikierter Form
einen Zukunftszustand darstellen? Wenn wir die konkrete Entwik-
kelung, wie wir sie aus der Akasha-Chronik kennen, uns vor Augen
stellen, konnen wir etwa fragen: Gibt es im Kosmos draufien etwas
wie ein altes Mondendasein, das nicht herein wollte zum Erdenda-
sein, sondern das aus dem alten Monddasein etwas zuriickbehalten
hat wie ein Weibliches im Kosmos? Gibt es etwas, was wie ein altes
Mondendasein eine friihere Stufe hereintragt in die Gegenwart? Und
gibt es im Kosmos etwas, was eine gewisse Stufe uberschritten hat,
sich verdickt und verdichtet hat, so dafi es einen spateren Zustand,
einen Jupiterzustand darstellt?
Das gibt es. Denselben Gegensatz wie mannlich und weiblich im
charakterisierten Sinne beim Menschen gibt es draufien im Kosmos:
Es ist der Gegensatz von Kometarischem und Lunarischem, von Ko-
met und Mond. Wenn wir den Komet in bezug auf sein Wesen ver-
stehen wollen, wie er heute, gleichsam durchbrechend die anderen
Gesetze des Sonnensystems, im Weltenraum herumwandelt, dann
mussen wir uns klarmachen, dafi es eigentlich die Gesetze des alten
Mondendaseins sind, welche der Komet in unser Dasein hineintragt.
Das hat er sich bewahrt und ist damit in unser Dasein hineingegan-
gen. Er hat die gegenwartige Materie des Sonnen-Erdensystems ange-
nommen, ist aber stehengeblieben in bezug auf Bewegung und sein
Wesen auf der Stufe der Naturgesetzlichkeit, die unser Sonnensy-
stem hatte, als die Erde noch Mond war. Er hat einen friiheren Zu-
stand hereingetragen in einen spateren, in die Gegenwart, wie der
weibliche Leib einen friiheren Zustand in das gegenwartige Dasein
hereintragt. Das Kometarische ist der eine Teil eines solchen Gegen-
satzes, das Mondendasein als sein Gegensatz stellt die andere Seite
dar. Als der Mond in der lemurischen Zeit sich aus der Erde heraus
entwickelte, hat er gewisse Teile mitgenommen, die herausgenom-
men werden mufken aus der Erde, damit sich der Mensch iiberhaupt
als Mensch entwickeln konnte. Die Erde durfte nicht so dicht wer-
den, wie sie geworden ware, wenn sie den Mond in sich behalten hat-
te. Der Mond stellt in der Tat einen karikierten Jupiterzustand dar.
Wie sich eine frische, reife Frucht darstellt gegeniiber einer, die, ganz
verrunzelt, sich in die Materie hinein versteinert hat, so ist der Mond
in seiner Konfiguration iiber eine gewisse mittlere Gestalt hinausge-
schritten, wie das Mannliche im Menschen in seiner Form bei der
Gestaltung diese Mitte iiberschritten hat. Ganz denselben Gegen-
satz, den wir im Menschenleben haben als den Gegensatz des Mann-
lichen und Weiblichen, haben wir im Kosmos zwischen Lunari-
schem und Kometarischem.
So gehoren die Dinge zusammen: wie Sonne und Erde, so Kopf
und Gliedmafien, wie Mond und Komet, so Mann und Frau im
Menschen. Nur diirfen wir damit nicht wieder nach Hause gehen
und sagen: Nun, da haben wir ja wieder etwas, was wir uns so
hubsch als einen Gegensatz merken konnen! - Wir miissen die Din-
ge tief ernst nehmen und uns klar sein, dafi zu anderen Zeiten noch
etwas anderes gesagt worden ist. Wir miissen in Betracht ziehen, dafi
der Mann nur in bezug auf seinen physischen Leib mannlich ist, in
bezug auf seinen Atherleib dagegen weiblich, und daiS umgekehrt die
Frau nur in bezug auf ihren physischen Leib weiblich ist. Was fiir
das Weibliche des Weibes gilt fiir den physischen Leib, das gilt auch
fiir den Atherleib des Mannes, so dafi auch der Atherleib des Mannes
zum Atherleib der Frau sich verhalt wie Komet zum Mond. Wenn
Sie nun wollen, konnen Sie sagen: Dadurch verschwimmt ja wieder-
um alles! - Aber so sind die Dinge. In jeder Kultur, die ihre Begriffe
geschaffen hat mit einem verdickten Gehirn, gehen ja die Begriffe
darauf hinaus, moglichst dicke Konturen zu schaffen, an denen gar
nicht geriittelt werden kann, so dafi man, wenn man solche Begriffe
hat, ganz daran festhalten mufi. Das lafit sich aber der Geist nicht ge-
fallen. Der Geist ist etwas Bewegliches, und wenn wir uns Begriffe
gebildet haben, miissen wir sie beweglich erhalten. Daher miissen
wir auch fiir das Mannliche in der Frau und fur das Weibliche im
Manne durchaus das anwenden, was eben von Mond und Komet in
bezug auf Mann und Frau gesagt worden ist. Es gilt eben das, was ge-
sagt worden ist, in bezug auf das Mannliche und Weibliche, wie es
uns im Menschenleben entgegentritt, und nicht fiir Mann und Frau,
wie sie uns aufierlich entgegentreten.
So haben wir im eminenten Sinne interessante Zusammenhange
zwischen Menschenentwickelung und Weltenentwickelung gefun-
den. Ganz gewifi wird - ich habe auch schon darauf aufmerksam ge-
macht - derjenige, der heute auf dem kurulischen Stuhl der wahren
wissenschaftlichen Weltanschauung sitzt, solche Dinge uber Komet
und Mond hochst verriickt und narrisch finden. Er mag es tun.
Er hat eben nicht den Willen, auf die Wahrheit wirklich einzu-
gehen. Wir auf dem Boden der Geisteswissenschaft konnen die
Briicke ziehen zwischen dem, was aus dem Geistigen kommt, und
dem, was auf dem physischen Plan sich uns darstellt. Die anderen
wollen es nicht.
Im Jahre 1906 wahrend des Kongresses in Paris habe ich darauf
aufmerksam gemacht, daft die Geistesforschung aus ihrer Erkenntnis
der kometarischen Natur sagen kann: Weil auf der Erde Verbindun-
gen von Kohlenstoff und Sauerstoff dieselbe Rolle spielen, welche
wahrend des alten Mondendaseins die Verbindungen von Kohlen-
stoff und Stickstoff gespielt haben, das heilk Zyanverbindungen, so
mull das kometarische Dasein blausaureartige Verbindungen enthal-
ten, Zyanverbindungen, die sich aus Kohlenstoff und Stickstoff zu-
sammensetzen. Diejenigen, die diese Dinge aufmerksam verfolgt ha-
ben, werden sich das bewahrt haben. So ist also aus der Geisteswis-
senschaft heraus langst gesagt worden, dafi unsere Kometennaturen
irgendwelche zyanartige Verbindungen enthalten. In den letzten
Wochen ist diese Tatsache als eine aufiere spektralanalytische Tatsa-
che durch die Zeitungen gegangen. Es ist das nur ein Fall, hundert
andere konnten ebenso angefuhrt werden, wie die Geistesforschung
ihre Briicke ziehen kann zu den Tatsachen der aufieren Forschung.
Spektralanalyse hat in diesem Falle nach Jahren das konstatiert, was
aus der Geisteswissenschaft heraus bereits vor Jahren gesagt worden
ist. Nirgends widersprechen die Tatsachen der aufieren materialisti-
schen Forschung den Tatsachen der Geistesforschung! Auf so etwas,
wie das eben Gesagte, darf man sich berufen, wenn diejenigen, die
auf dem kurulischen Stuhl der wahren Wissenschaft sitzen, immer
wieder kommen und auf die aufieren Tatsachen hinweisen. Wir diir-
fen die aufieren Tatsachen nur nicht verwechseln mit den engbe-
grenzten Begriffen, welche die Menschen sich selber ziehen. Wenn
das alles Tatsachen waren, was heute Naturwissenschaft ist, dann
wiirde die Naturwissenschaft sehr der Geisteswissenschaft wider-
sprechen; aber das sind gar nicht Tatsachen, sondern nur korrupte
Begriffe derjenigen, die durch unsere heutigen Zeitverhaltnisse eben
berufen sind, mit den Dingen zu hantieren.
Nun konnen wir uns noch das Folgende fragen, nachdem wir uns
diesen Gegensatz vor Augen geriickt haben, der sich im Menschenle-
ben ebenso wie im Kosmos findet: Was wird denn damit eigentlich
herausgeboren aus dem Weltall, wenn wir diesen ganzen Gegensatz
des Kometarischen und Lunarischen ins Auge fassen?
Es ist etwas schwer, das ganz Gewaltige, was dieser Tatsache zu-
grunde liegt, in einer verhaltnismafiig kurzen Zeit zu charakterisie-
ren. Daher gestatten Sie einmal, dafi ich davon ausgehe, vergleichs-
weise das Menschenleben zu charakterisieren, wie es verfliefit, wenn
wir es in seinem aufieren Verlauf betrachten. Da gibt es zunachst et-
was, von dem man sagen konnte, es verlauft im guten Sinne burger-
lich von Tag zu Tag. Man steht des Morgens auf, nimmt das erste
Friihstuck, dann geht es weiter nach dem, was eben jeder Tag bringt
nach den gewohnlichen Gesetzen des Tages. Aber es gibt auch in die-
sem Leben des Menschen Ereignisse, die hineinschlagen und mit
einem Schlage Veranderungen in den Verlauf des Alltags bringen.
Nehmen wir einmal an, ein Mann und eine Frau leben so recht gut-
biirgerlich eine Zeitlang dahin mit dem gewohnlichen, nur wenig va-
riierten Tagesprogramm. Aber etwas anderes kommt, was tatsach-
lich eine Art Ruck bildet im gewohnlichen aufieren Leben derjeni-
gen Menschen, die unter solchen Verhaltnissen stehen. Ein solcher
aufierer Ruck ist es, wenn ein neuer Mensch sich verkorpert, als Er-
denburger ins Dasein hineintritt. Das unterscheidet sich gewaltig
von dem gewohnlichen Gang des alltaglichen Lebens. Wenn aber ein
neuer Weltenbiirger hereintritt in den Horizont von Mann und
Frau, so fallt damit tatsachlich etwas hinein, was dem ganzen Fami-
lienzusammenhang ein neues Geprage gibt. Das wollte ich zum Ver-
gleich heranziehen, weil wir dadurch den tiefen okkulten Hinter-
grund des Kometendaseins ein wenig zum Verstandnis bringen kon-
nen. Es verlauft sozusagen auch im Kosmos das Leben von Tag zu
Tag, von Jahr zu Jahr «gut-biirgerlich». Es geht da jeden Tag dasselbe
vor: Die Sonne geht auf und unter, die Pflanzen bliihen im Fruhling,
im Herbst dorren sie ab; und wenn es einmal Regen oder Sonnen-
schein gibt, oder Hagelschlag oder dergleichen eintritt, so entspricht
das den Ereignissen, die auch sonst im gewohnlichen Leben gesche-
hen, wenn zum Beispiel statt des gewohnlichen Tees einmal ein fest-
liches Kaffeekranzchen veranstaltet wird. Solche Dinge sehen wir
durchaus im gewohnlichen Trott fortgehen. Das alles hangt zusam-
men mit den Gesetzen, die einmal den Bewegungen von Sonne, Erde
und so weiter zugrunde liegen, und wie sie sich Jahr fur Jahr, Tag fiir
Tag vollziehen. Aber in diesen Gang ragen in merkwiirdiger Weise
herein die selteneren, aber sich doch wiederum in gewisser Bezie-
hung wiederholenden Erscheinungen der Kometen. Sie ragen ebenso
herein in den Gang der kosmischen Geschehnisse wie ein neuer Er-
denbiirger, der in den Horizont von Mann und Frau hereintritt.
Durch das Erscheinen des Kometen im Kosmos wird tatsachlich in
das Menschheitsdasein etwas hineingefiihrt, was nicht auf dem ge-
wohnlichen Gang des Lebens gegeben werden konnte. Es mufi,
wenn die Entwickelung fortgehen soil, nicht blofi das geben, was
sich von Tag zu Tag wiederholt, sondern es mu£ Neues hineingefugt
werden in diesen Zusammenhang. Wie in das einzelne Familienle-
ben mit einem neuen Erdenbiirger etwas ganz Besonderes hinein-
kommt, so kommt in den Fortschritt des Menschengeschlechtes auf
der Erde durch diese, den gewohnlichen Fortgang des Weltendaseins
durchbrechende Erscheinung des Kometen etwas ganz anderes hin-
ein. Es wird tatsachlich gleichsam etwas Neues geboren, wenn der
Komet in die Welt tritt.
Fur den, der geistig diese Dinge untersuchen kann, gibt es dabei
die Moglichkeit, ganz genau darauf hinzuweisen, wie die einzelnen
Kometen ihre Funktionen haben, dieses oder jenes geistig Neue hin-
einzufuhren in die Welt. So ist der Halleysche Komet einer von den-
jenigen, der so, wie er periodisch erscheint, immer wieder etwas
ganz bestimmtes Neues gebiert im Menschenleben. Wahrend sich
sonst die Dinge in der gewohnlichen Weise wiederholen, bringt der
Komet eine seelisch-kulturelle Neugeburt hervor. Was damit ge-
meint ist, kann ich Ihnen charakterisieren, wenn ich nur die drei
letzten Erscheinungen des Halleyschen Kometen anfuhre von den
Jahren 1759, 1835 und diejenige, vor der wir gegenwartig stehen.
Was fiir eine Aufgabe - andere Kometen haben andere Aufgaben -
kommt diesen drei letzten Erscheinungen zu?
Neugeburten im Weltall sind nicht blofi solche, welche wir mit
derselben Freude begrufien wie einen jungen Erdenbiirger, der in
eine Familie hineintritt. Im Weltall wird alles geboren, was die
Menschheit vorwarts- oder aber auch zuriickbringt. Nun hangt das
Erscheinen des Halleyschen Kometen, das heifit also, was er geistig
bedeutet fiir die Fortentwickelung der Menschheit, mit demjenigen
zusammen, was die Menschheit aufnehmen mufite aus dem Kosmos
in den verschiedenen Zeiten des Kali Yuga, um immer mehr in be-
zug auf das Denken in die Materialitat hineinzusteigen. Mit jedem
neuen Erscheinen wurde fiir die Menschheit ein neuer Impuls gebo-
ren, um aus einer spirituellen Weltanschauung das Ich herunterzu-
treiben, um die Welt materialistischer aufzufassen. Nicht ein Herun-
tersteigen in die Materie ist gemeint, sondern dasjenige, was das
menschliche Ich aus dem Weltall aufnehmen mufi an geistiger Sub-
stanz, um von einem spirituellen Dasein hinunterzutreiben in die
Sphare der mater ialistischen Anschauungen. Alle diejenigen An-
schauungen aus der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts, die man die
«seichte Aufklarung» nennt, und die Goethe so verspottet hat in
«Dichtung und Wahrheit» als jene Anschauungen, wie sie zum Bei-
spiel in Holbachs «Systeme de la Nature» ihren Vertreter gefunden
haben, sie begreift man kosmisch durch die Erscheinung des Halley-
schen Kometen vom Jahre 1759. Der banalen materialistischen Lite-
ratur vom zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ging voran die Er-
scheinung des Halleyschen Kometen vom Jahre 1835. Die Dinge, die
auf der Erde geschehen mikrokosmisch, hangen makrokosmisch zu-
sammen mit den Dingen in der grolSen Welt. Mit der Erscheinung
des Halleyschen Kometen vom Jahre 1835 war wiederum geboren
ein neuer Impuls in den Materialismus herunter. Und Biichner, Vogt
und Moleschott sind diejenigen, die auf der Erde ausleben, was aus
dem Kosmos herunter wie ein gewaltiges Zeichen mit dem Halley-
schen Kometen erschienen ist. Und jetzt stehen wir davor - weil die
Menschheit eben gepruft werden mufi, sich aus sich selber emporrin-
gen mufi, die Widerstande der Spiritualitat fuhlen mufi, um dann um
so mehr Krafte zu ihrem Aufstieg zu entfalten - , jetzt stehen wir da-
vor, dafi wir mit dem neuen Erschemen des Halleyschen Kometen
aus dem Weltall zugesendet erhalten die Krafte, welche die Mensch-
heit in einen noch flacheren, in einen noch abscheulicheren Materia-
lismus herunterfuhren konnen. Geboren werden kann etwas, was
sich vielleicht selbst die flachsten Flachlinge des Buchnerianismus
nicht denken konnen. Diese Moglichkeit mufi gegeben sein. Denn
nur, wenn der Mensch die ihm widerstrebenden Machte iiberwin-
det, kann er sich die hinauffuhrenden starken Krafte aus dem Weltall
aneignen.
Wenn wir das ins Auge fassun, werden wir in der richtigen Weise
dem gegeniiberstehen, was wir Zeichen des Himmels nennen kon-
nen. Es ist durchaus der Fall, wenn es nur nicht aberglaubisch aufge-
fafit wird, sondern im Sinne der groften Weltengesetze: Es steckt der
Herrgott wieder einmal die Himmelsrute heraus, um den Menschen
zu zeigen, was sie zu tun haben. Und die gegenwartige Erscheinung
des Halleyschen Kometen ist eine solche, die beachtet werden mufi.
Denn es mufi ein gewaltiger Impuls zum Aufstieg erfolgen, um her-
auszukommen aus dem Versunkensein in eine materialistische Welt-
anschauung zur Spiritualitat. Wie uns die Moglichkeit gegeben ist, in
den Materialismus hinein zu versumpfen, so ist uns auf der anderen
Seite die Moglichkeit gegeben, hinaufzusteigen zu helleren, geistige-
ren Hohen.
In den letzten Vortragen ist klar und deutlich erwahnt worden,
daft sich noch in der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts als natiirliche
Eigenschaft bei einzelnen Menschen ein atherisches Hellsehen aus-
bilden kann. Damit der Mensch nicht weiter herunterzusinken
braucht in den Materialismus, was ihm durch ein Zeichen jetzt,
1910, angedeutet wird, kann heute schon fur denjenigen, der Ver-
standnis fur Geisteswissenschaft hat, das vor Augen stehen, dafi sich
im Schofie der menschlichen Seele die Krafte entwickeln, die den
Menschen iiber alien Materialismus hinuberfuhren konnen. Wenn
der Mensch diese Krafte versteht, werden sie ihn lehren konnen, sel-
ber die atherische Natur des Christus zu sehen. Wir leben an einem
wichtigen Kreuzungspunkt, wo selbst durch Zeichen vom Himmel
dem Menschen gelehrt wird, dalS der Weg nach der einen Seite noch
weiter in den materialistischen Sumpf gehen kann, nach der anderen
Seite jedoch dahin, wo sich die Krafte beim Menschen entwickeln
miissen, die nach dem Ablauf des Kali Yuga zum atherischen Hellse-
hen fuhren. Es steht wahrhaftig so mit uns, daft der Ruf Johannes
des Taufers: Andert die Seelenverfassung! - auch fiir unsere Zeit
gilt. Das kann durchaus betont werden. Wie uns auf der einen Seite
die Moglichkeit gegeben ist, in dem materialistischen Sumpf zu ver-
kommen, ist uns auf der anderen Seite die Moglichkeit gegeben da-
durch, dafi die Sonne im Friihlingspunkt einen gewissen Punkt im
Sternbild der Fische erreicht, das zu gewinnen, was ein gewisses
atherisches Hellsehen ist. Auch fur den spirituellen Aufstieg sind die
Zeichen im Kosmos da, die uns anzeigen, wie die Krafte aus dem
Kosmos kommen. Der Mensch mufi dadurch, dafi er sich in die
Geisteswissenschaft hineinfindet, sich ein Verstandnis aneignen fiir
diese Entscheidung. Und erst der versteht Geisteswissenschaft recht,
der sich fiir diese Entscheidung das Verstandnis aneignet. Hindurch-
schreiten miissen wir durch die Prufung, die uns auferlegt wird
durch Zeichen des Himmels, und die wir jetzt erkannt haben zum
Beispiel in dem Erscheinen des Halleyschen Kometen.
Stellen wir uns nun die Christus-Erscheinung vor, wie sie fur die
ersten Vorzugler in den nachsten 2500 Jahren auftreten wird, wie es
fiir den Paulus vor Damaskus der Fall war. Der Mensch wird aufstei-
gen zur Erkenntnis der spirituellen Welt, wird durchsetzt sehen die
physische Welt mit einem neuen Lande, mit einem neuen Reich.
Verandert wird in den nachsten 2500 Jahren der Anblick der physi-
schen Umgebung fiir den Menschen sein, indem hineintreten wird
fur ihn ein atherisches Gebiet, das da ist, das aber der Mensch erst
wird sehen lernen miissen. Dieses atherische Gebiet liegt jetzt schon
vor demjenigen ausgebreitet, der seine esoterische Schulung bis zur
Erleuchtung gebracht hat, auch vor dem Eingeweihten des Kali
Yuga. So ist das, was in Zukunft die Menschen immer mehr und
mehr sehen werden, fiir den Eingeweihten bis in hohe Hohen hinauf
da. Und der Eingeweihte holt sich immer wieder nach einer be-
stimmten Zeit, wenn er es braucht, Krafte aus diesem Gebiet. Er
holt sich seine Krafte, wenn er etwas auszufuhren hat, aus jenem Ge-
biete des fiir den Eingeweihten sichtbaren Erdenkreises, der da ist,
aber nur fiir den Menschen, der hineinschauen kann. Das kann uns
ein Verstandnis dafur geben, dafi wir wissen, dafi ein Teil jenes Lan-
des, aus dem der Eingeweihte immer wieder wahrend des Kali Yuga
seine Krafte geschopft hat, fiir einen grofien Teil der Menschheit
wahrend der nachsten 2500 Jahre ausgebreitet sein wird.
Friiher, in den Zeiten eines uralten Hellsehens, konnte der
Mensch ohne das starke Ich-Bewufksein hineinschauen in die geisti-
ge Welt, so dafi er damals schon in gewisser Weise das gesehen hat,
was er jetzt wieder sehen wird, aber jetzt so, dafi er hineintreten
wird mit seinem neuen Selbstbewufitsein. Damals sah er es in traum-
haft ekstatischen Zustanden, oder beim Hineinschauen in die eigene
Seele. Damals war diese Welt vorhanden vor dem Blick, der wah-
rend des Kali Yuga nur ein physischer Blick geworden ist. Daher er-
zahlen uns die Traditionen, welche sich ein Andenken an das alte
Hellsehen bewahrt haben, von einem unbekannten Marchenlande,
das dem Blick des heutigen Menschen entschwunden ist. Und es gibt
in der morgenlandischen Literatur wunderbare Schriften mit einem
eigenartigen tragischen Zauber in ihrem Inhalt, der etwa sagt: Es hat
einmal im Menschenreich die Moglichkeit gegeben, hinzupilgern zu
einem Lande, wo herausgeflossen ist alles Geistige in ein physisch
Sinnliches. Es ist das Land, aus dem in entsprechenden Zeiten die
Eingeweihten, und aus dem die Bodhisattvas immer wieder ihre
Kraft schopfen. Mit tiefer Wehmut wird von diesem Lande in den
orientalischen Schriften gesprochen, wo es in einigen etwa heifit:
Wo ist es? Es wird uns gesagt, wie die Orte heifien, Wege werden ge-
nannt, aber selbst vor den angesehensten Lamas des tibetanischen
Gebietes hat es sich verborgen. Nur den Eingeweihten ist es zugang-
lich! Aber es wird davon erzahlt, dafi dieses Land wieder zur Erde
kommen werde. Und das ist wahr: Es wird zur Erde kommen! Und
der Fuhrer dazu wird derjenige sein, den die Menschen sehen wer-
den, wenn sie durch das Ereignis von Damaskus hineingelangen wer-
den in das Land «Schamballa». Schamballa, so heifit das Land, hat
sich zuriickgezogen vor dem Blick der Menschen. Es ist heute nur zu
betreten fiir die, welche sich als Eingeweihte nach bestimmten Zei-
ten ihre Kraftigung von dort zu holen haben. Die alten Krafte fuh-
ren nicht mehr in das Land Schamballa. Daher sprechen die orienta-
lischen Schriften mit so tragischer Wehmut von dem untergegange-
nen Lande Schamballa. Aber es wird das Christus-Ereignis, das
durch die erwachten neuen Fahigkeiten in diesem Jahrhundert den
Menschen beschert sein wird, wiederbringen das Marchenland
Schamballa, das wahrend des Kali Yuga im Grunde nur der Einge-
weihte kennen konnte.
So also steht die Menschheit vor der Entscheidung: Entweder mit
dem, was durch den Halleyschen Kometen kommt, heruntergefiihrt
zu werden in eine Finsternis, die noch unter dem Kali Yuga liegt,
oder durch anthroposophisches Verstandnis nicht zu ubersehen das-
jenige, was veranlagt ist an neuen Fahigkeiten, um die Wege zu fin-
den nach dem Lande, das heute gemafi der orientalischen Literatur
verschwunden ist, das aber der Christus der Menschheit wieder zei-
gen wird: nach dem Lande Schamballa. Das ist der grofte Punkt am
Scheidewege: Entweder hinunter oder hinauf; entweder in etwas,
was als ein Welten-Kamaloka noch unter dem Kali Yuga liegt, oder
in das, was dem Menschen moglich macht jenes Gebiet zu betreten,
was in Wahrheit gemeint ist mit der Bezeichnung Schamballa.
SECHSTER VORTRAG
Berlin, 2. Mai 1910
In diesen Wintervortragen hat uns von den verschiedensten Seiten
her viel die Frage beschaftigt nach dem Wesen des Christus, und wir
haben in der mannigfaltigsten Weise klarzulegen versucht, was wir
den Christus-Impuls in der Menschheitsentwickelung nennen, als
das Gewaltigste innerhalb unserer ganzen Erdenentwickelung. Da-
her kann es begreiflich erscheinen, dafi erstens dieses Thema iiber-
haupt nicht erschopft werden kann, sondern dafi man sozusagen
Unendliches zu tun hatte, wollte man den Christus-Impuls allseitig
klarlegen. Auf der anderen Seite kann aber wieder auch das klar sein,
daft nach alien unseren Voraussetzungen im Grunde genommen al-
les, was den Menschen interessieren kann, an die Besprechung der
Christus-Erscheinung anzuschliefien ist. Wir haben ja gesehen, dafi
die Evangelien selbst von vier verschiedenen Seiten her dem Wesen
des Christus nahezukommen suchen, und wir haben verschiedenes
angedeutet iiber die Geheimnisse der einzelnen Evangelien.
Nur bis zu einem gewissen Grade konnten wir in das Matthaus-
Evangelium hineinleuchten. Es wird nun spateren Vortragen iiber-
lassen bleiben mussen, im Zusammenhang wieder zuriickzukom-
men auf die Geheimnisse des Matthaus-Evangeliums, um dann hin-
einzusteigen in die Tiefen des Markus-Evangeliums. Wiirden wir
jetzt am Ende des Winters in unserem Zweige auch nur mit einigen
skizzenhaften Andeutungen auf das hinweisen wollen, was uns noch
iibriggeblieben ist, so wiirde das zu sehr fur die nachsten Zeiten die
Geschlossenheit der Vortrage zerstoren. Daher sollen heute und das
nachste Mai von mir Fragen beriihrt werden, die in gewisser Bezie-
hung von einer anderen Seite her an das Christus-Problem heran-
kommen, und zwar soli heute beriihrt werden die Frage nach dem
Zusammenhang des menschlichen Gewissens mit dem Einschlag des
Christus-Impulses in die Menschheitsentwickelung. Damit wird zu-
gleich noch etwas anderes erreicht. Am nachsten Donnerstag haben
wir den offentlichen Vortrag iiber das menschliche Gewissen, und
auch heute soil hier im Zweige iiber dasselbe Thema gesprochen
werden. Damit wird aber eine ganz bestimmte Absicht verfolgt, eine
Absicht, die spater noch ofter vor unser geistiges Auge treten soil. Es
soli namlich gezeigt werden, dafi iiber denselben Gegenstand in einer
andern Art gesprochen werden soil innerhalb einer solchen Arbeits-
gruppe, in der wir uns befinden, als in einem offentlichen Vortrage,
der auch fur diejenigen bestimmt ist, die der geisteswissenschaftli-
chen Bewegung noch nicht angehoren. Der Anthroposoph soli ja
unter den mancherlei Dingen, die sich als Eigenschaften festsetzen
sollen in seinem Gemiit, auch ein Gefiihl dafiir bekommen, dafi man
den Dingen der Welt von den verschiedensten Standpunkten und
Seiten beikommen soli, und dafi der, welcher schon gewisse Voraus-
setzungen hat, anders iiber eine Sache sprechen und horen kann als
jemand, der solche Voraussetzungen nicht hat. Wenn wir in einer
Arbeitsgruppe sprechen, so setzen wir voraus, dafi das Gemiit sich
bis zu einem gewissen Grade hineingelebt hat in die Vorstellungen
einer geistigen Welt, drinnensteht in Empfindungen und Gefiihlen
von der geistigen Welt, und dafi aus diesen Empfindungen, Gefiihlen
und Gedanken, die iiber die geistige Welt aufgenommen worden
sind, sich zusammenfugen kann eine Vorstellung iiber eine solche
Sache, wie das menschliche Gewissen es ist. Es kann also aus viel in-
tensiveren Tiefen heraufgeholt werden die Antwort auf solche Fra-
gen in einer Arbeitsgruppe als in einem offentlichen Vortrag, der
vor einem nicht anthroposophischen Publikum gehalten wird. Sol-
len ja doch diese offentlichen Vortrage die Aufgabe haben, durch die
Erscheinungen des Seelenlebens, die man zunachst wie aufiere Erleb-
nisse heranzieht, nach und nach erst etwas wie eine Art Beweis dafiir
herbeizutragen, dafi die Wahrheiten, die wir in der Geisteswissen-
schaft kennen, wirklich Wahrheiten sind. Das ist eine andere Aufga-
be als fur den Geisteswissenschafter selber zu sprechen, der gewisse
Voraussetzungen, Uberzeugungen, vielleicht auch gewisse Anschau-
ungen iiber die geistige Welt schon mitbringt. Der Geisteswissen-
schafter soil sich eben nach und nach aneignen, die Begriffe und Vor-
stellungen, welche ihm dies und jenes erklaren, in der verschieden-
sten Weise aus den verschiedensten Quellen und Seiten herholen zu
lernen, und der Geisteswissenschafter soil sich abgewohnen lernen
die Unart, die aber notwendigerweise im aufteren Leben bestehen
muli, als ob man nur in einer Art und Weise iiber eine Sache spre-
chen konnte.
Das menschliche Gewissen ist etwas, was uns ja im Tiefsten der
Seele beriihren mui Und wo uns seit Jahrhunderten Philosophen
oder sonstige Denker iiber die Welt entgegentreten, da ist es in der
Regel auch die Frage nach dem, was man das menschliche Gewissen
nennt, die sie interessierte. Man konnte nun gerade einer solchen Er-
scheinung wie dem Gewissen gegeniiber sich leicht einer Illusion
hingeben: der Illusion, die hier schon ofter eben als Illusion bezeich-
net worden ist, und die darin bestehen wiirde, daft man glaubte, alles
was in der menschlichen Seele heute gegenwartig ist, das sei schon
immer dagewesen. Wir haben aber gesehen, dafi die verschiedensten
Seelenfahigkeiten und Seelenvorgange, welche sich im Menschen im
Laufe der Jahrtausende entwickelt haben, in der Urzeit ganz andere
waren, als sie gegenwartig sind. Und auch mancherlei von dem, was
wir heute als das Teuerste, als das Bedeutsamste besitzen in unserem
Seelenleben, haben unsere Seelen nicht gehabt, als sie vor vielen
Jahrtausenden in anderen Verkorperungen auf der Erde wandelten.
Das Durchgehen durch verschiedene Verkorperungen hat ja einen
Sinn. Wir haben das oft betont. Es hat den Sinn, dafi die Seele, indem
sie sich von Verkorperung zu Verkorperung entwickelt, immer
neue Fahigkeiten und Krafte sich aneignen kann, daft die Seele wirk-
lich eine Geschichte durchmacht, dafi ihr Erdendasein eine Lehrzeit
ist, dafi sie etwas anderes gewesen ist in der Zeit, als unsere Verkor-
perungen begonnen haben, und etwas anderes ist jetzt, und etwas
anderes sein wird in einer fernen Zukunft.
Auch das menschliche Gewissen, dieses teure Gut der Menschen-
seele, welches wie eine Gottesstimme ruft gegeniiber dem Guten
und gegeniiber dem Bosen in jedem individuellen Menschen, auch
diese teure Gabe des menschlichen Innern ist nicht immer dagewe-
sen. Auch dieses Gewissen ist etwas, was sich entwickelt hat. Und es
ist sogar verhaltnismaftig noch nicht lange her, seit sich dieses
menschliche Gewissen ankiindigte und sich seitdem immer weiter
und weiter entwickelt hat. Und wenn es auch ein teures Gut ist, so
ist es dehnoch nicht dazu berufen, immer in derselben Weise durch
alle folgenden Inkarnationen hindurch in der menschlichen Seek zu
leben, so wie jetzt. Es wird sich weiter entwickeln, es wird andere
Gestalten annehmen, wird sich erweisen als etwas, was sich der
Mensch anzueignen hat, was ihm Friichte tragen wird, und was in
spateren Zeiten, wenn er diese Friichte haben wird, etwas sein wird,
auf das er zuriickblickt und sagt: Es gab eine Epoche, da wurde es
mir moglich, auf dem Durchgange von Inkarnation zu Inkarnation
meinem Seelendasein das einzuverleiben, was das Gewissen ist, und
jetzt habe ich die Friichte von dem, was ich einst meiner Seele ein-
verleibt habe. - Wie wir heute zuriickschauen auf eine Zeit, wo un-
sere Seelen in anderen Verkorperungen waren und das noch nicht
hatten, was wir heute Gewissen nennen, so werden in spateren Zei-
ten unsere Seelen einstmals zuriickblicken auf unsere gegenwartigen
Inkarnationen und werden sagen: Heil jener Vergangenheit! Dank
jenen Gaben, die uns in der Vergangenheit geworden sind als
menschliches Gewissen! Hatten wir damals nicht das menschliche
Gewissen entwickeln konnen in unsern Seelen, so wurde uns jetzt
das fehlen, was wir brauchen zu dem jetzigen Leben!
Daraus schon sehen wir, dafi das Gewissen zu den seelischen Gu-
tern der Gegenwart gehort, und dafi es etwas wie Verstandnis unse-
rer Gegenwart ist, wie Verstandnis des Seelenlebens unserer Gegen-
wart, wenn wir etwas verstehen von der Natur und dem Wesen des
menschlichen Gewissens. Dafi es entstanden ist, darauf wurde ja in
manchem Zusammenhange schon aufmerksam gemacht. Darauf
wird auch am nachsten Donnerstag hingedeutet werden, dafi man
sozusagen mit Fingern hinweisen kann auf den Zeitpunkt, wo das
Gewissen fur die menschliche Seele erst entdeckt worden ist. Wenn
wir einige Jahrhunderte zuriickgehen in das alte Griechenland, so
finden wir kaum ein halbes Jahrtausend vor dem Beginn der christli-
chen Zeitrechnung den grofien Dichter Aschylos. Wenn wir bei ihm,
bei diesem gewaltigen Genius der griechischen Urdramatik uns um-
sehen, wenn wir seine Gestalten auf uns wirken lassen, so finden wir
in seiner Dramatik das, was wir heute mit dem Ausdruck Gewissen
bezeichnen, noch nicht mit einem ahnlichen Ausdruck bezeichnet.
Ein halbes Jahrtausend vor dem Beginn der christlichen Zeitrech-
nung gibt es fur den grofken Dramatiker noch keinen Ausdruck fur
das, was wir heute als das menschliche Gewissen bezeichnen. Wenn
er ausdriicken will den menschlichen Seelenvorgang, der dem ent-
sprechen wiirde, was wir heute Gewissen nennen, dann mufi er es in
der Weise tun, dafi jemand, der zum Beispiel das Unrecht des Mut-
termordes begangen hat, durch die Gewalt dieses Ereignisses ins
Geistige hineinschaut und Gestalten sieht im Geistigen, die das alte
Griechentum die Erinnyen, das spatere Rdmertum die Furien ge-
nannt hat. Das heilk, wer ein Unrecht wie den Muttermord getan
hat, der vernimmt bei Aschylos nicht das, was wir heute die vorwer-
fende Stimme des Gewissens im eigenen Innern nennen, sondern
ihn drangt etwas, geistig zu schauen die Gestalten, die wie die Racher
seiner Tat ihn umgeben.
Das ist einer der besonderen Beweise, die Sie finden konnen in der
geschichtlichen Entwickelung der Menschheit fur das, was in umfas-
sender Weise eben charakterisiert worden ist. Das menschliche See-
lenvermogen war in alten Zeiten ganz anders. Wir haben immer be-
tont, dafi die menschliche Seele sich erst nach und nach entwickelt
hat zu ihrer jetzigen Fahigkeit, die physisch-sinnliche Welt durch die
Sinne so wahrzunehmen, wie sie es heute kann, und den Verstand so
zu gebrauchen, wie sie ihn heute gebraucht. Wir haben betont, dalS
die Seele in alten Zeiten als normales Vermogen ein gewisses Hellse-
hen hatte. Dieses Hellsehen trat zur Zeit des Aschylos nur noch in
besonderen Fallen ein. Hellsichtig wird die Seele zum Beispiel, um
das zu schauen, was sie in der physischen Welt durch ihr Unrecht
angerichtet hat. Hellsichtig wird die Seele des Orest, nachdem er den
Muttermord begangen hat. Da sieht sie, welche Geister sie durch
ihre Tat wachgerufen hat in der geistigen Welt. Die dringen an sie
heran. Nicht im Innern der Seele sitzt so etwas wie das Gewissen,
sondern hellsichtiges Bewulksein tritt auf, um die Unordnung zu se-
hen, die wachgerufen ist dadurch, dafi in der physischen Welt ein
Unrecht begangen worden ist. Das wiirden wir in alten Zeiten iiber-
all finden: Wer ein Unrecht getan hat, hort noch nicht die warnende
Stimme des Gewissens, denn die Seele ist in alten Zeiten im Zustan-
de des Hellsehens und sieht da, was entstanden ist in der, Aufienwelt
durch das Unrecht.
Was geschieht denn, wenn ein Unrecht begangen worden ist? Da
wird durch uns selber in der geistigen Welt etwas geschaffen. Es ist
nur materialistisches Vorurteil, dafi ein Unrecht voriibergehen
kann, ohne dafi dabei in der geistigen Welt etwas geschaffen wird.
Das Unrecht erzeugt ganz bestimmte Vorgange in der geistigen
Welt, Wirkungen, die von uns ausstrahlen, unsichtbar fur die aufiere
Sinnenbeobachtung, aber vorhanden fur geistiges Schauen. Und sol-
che geistigen Vorgange, die von jemandem ausstrahlen, der ein Un-
recht getan hat, bedeuten Nahrung fur gewisse Wesenheiten, die in
der geistigen Welt tatsachlich vorhanden sind. Solche Wesenheiten
konnen an den Menschen nicht immer heran. Wenn er keine solche
Ausstrahlungen hat, wie sie von einem unrechten Tun kommen,
dann konnen sie nicht an ihn heran. Es geht mit ihnen gerade so wie
mit einer Stube: Wenn die Stube ganz rein ist, konnen keine Fliegen
darinnen sein. Es sind auch keine drinnen. Aber wenn die Stube alles
mogliche Schmutzige hat, Speisereste und so weiter, da sind die Flie-
gen gleich da. In dem Augenblick, wo der Mensch ausstrahlt durch
seine schlechten Taten gewisse geistige Ausstrahlungen, da sind um
ihn herum Wesenheiten, die sich davon nahren. Diese Wesenheiten
lalk der grofie griechische Tragiker Aschylos um Orest herum sein.
Was wir heute als innere Stimme vernehmen, das ist dem griechi-
schen Tragiker Aschylos noch so bewufit, dafi er es in aufteren Ge-
stalten auftreten lafit, weil er weifi, dafi in besonderen Fallen immer
noch das eintrat, was in alteren Zeiten ein Gemeingut aller Seelen
war: ein gewisses hellsichtiges Bewufksein. Von allem friiheren
bleibt etwas fur spatere Zeiten zuriick und tritt dann als Atavismus
auf, aber nur in abnormen Fallen. Daher ist es nicht etwas, was zu ta-
deln ware, wenn bei Shakespeare zum Beispiel noch etwas ahnliches
auftritt, gleichsam ein objektiviertes Gewissen.
Dann aber brauchen wir nur wenige Zeit weiterzugehen in der
griechischen Kunst, von Aschylos zu Euripides, und Euripides, der
spatere Tragiker, zeigt uns, dafi er den Begriff des Gewissens bereits
hat. So sehen wir im alten Griechenland, wie in dem halben Jahr-
tausend vor der christlichen Zeitrechnung der Begriff des Gewissens
nach und nach erst auftritt. Suchen Sie sich im Alten Testament ein
Wort fiir das, was wir heute Gewissen nennen: Sie werden es nicht
finden. Gewissen ist etwas, was als Fahigkeit erst in die Menschen-
seele eingezogen ist. Und wenn wir nicht kurze Spannen Zeiten be-
trachten, sondern grofie Zeitraume, dann konnen wir sehen, dafi das
Gewissen etwas ist, was in die Menschenseele seinen Einzug gehalten
hat auch ungefahr in derselben Zeit, als der Christus-Impuls in der
Seele Platz gegriffen hat. Man mochte sagen, fast wie ein Schatten
folgt das Gewissen dem Christus-Impuls, wie er eintritt in die welt-
geschichtliche Entwickelung. Um das nun zu verstehen, mussen wir
heute nun mancherlei in uns lebendig machen, was wir im Laufe der
Jahre uns angeeignet haben, und was wir fruchtbar machen mussen
zum Begreifen dessen, was das menschliche Gewissen eigentlich ist.
Wenn wir begreifen wollen in einem tieferen Grunde, was das Ge-
wissen ist, so mussen wir gerade jenen Zeitpunkt ins Auge fassen, in
welchem die menschliche Entwickelung sich dem Christus-Impuls
nahert, diesen Christus-Impuls aufgenommen hat und dann in unse-
re Zeit hinein weitergeschritten ist. Wir wissen, dafi wir es dabei zu
tun haben mit drei Kulturepochen unserer Menschheitsentwicke-
lung, die wir bezeichnen als die agyptisch-chaldaische Kultur, die
griechisch-lateinische Kultur und als unsere gegenwartige Kultur.
Die zwei vorhergehenden Kulturen, die uralt-indische und die urper-
sische, konnen wir jetzt unberiicksichtigt lassen, denn da waren un-
sere Seelen noch weit entfernt, dasjenige auch nur zu ahnen, was wir
heute mit dem Begriff des Gewissens bezeichnen. In der agyptisch-
chaldaischen Kultur sehen wir allmahlich, wie sich vorbereitet alles,
was dann zu der hochsten Hohe emporgestiegen ist, die es erreichen
konnte, um in der griechisch-lateinischen Kultur den bedeutsa-
men Impuls zu erlangen, der als der Christus-Impuls aufgenommen
worden ist. Und wir sehen dann in unserer eigenen Zeit die Epo-
che, wo dieser Impuls verarbeitet wird. Und immer grofier und be-
deutungsvoller wird dieses Verarbeiten in dem kommenden Zeit-
alter werden.
Wenn wir uns nun noch etwas genauer erinnern an diese Entwik-
kelung, die sich vollzieht von der agyptisch-chaldaischen Zeit durch
die griechisch-lateinische Epoche bis in unsere Zeit hinein, so tritt
uns da vor die Seele, dafi in jeder dieser Epochen insbesondere ein
Glied der menschlichen Seele entwickelt wird. Von den drei Glie-
dern der menschlichen Seele ist wahrend der agyptisch-chaldaischen
Zeit entwickelt worden dasjenige, was wir die Empfindungsseele
nennen, das heifit, wir mufiten in agyptisch-chaldaischen Leibern
einstmals verkorpert sein, damit wir in die Lage kamen, in regelrech-
ter Weise jene Fahigkeiten in uns aufzunehmen, die zu der besonde-
ren Ausbildung der Empfindungsseele taugen. Dann haben wir als
Seelen jene Eigenschaft mitgenommen in die nachsten Verkorperun-
gen wahrend der griechisch-lateinischen Epoche, um jetzt auszubil-
den die Verstandes- oder Gemiitsseele. Und mit den Friichten, die
wir aus der griechisch-lateinischen Epoche gewonnen haben, leben
wir in unseren jetzigen Verkorperungen, um nun allmahlich das zu
immer hdherer Entwickelung kommen zu lassen, was wir die Krafte
der Bewufitseinsseele nennen. So wird unsere Seele als Mensch gera-
de wahrend diesen drei Zeitaltern ausgebildet. Und wenn unsere
Zeit voruber sein wird, dann wird unsere Seele aufsteigen zu der
Entwickelung der Fahigkeit des Geistselbst. Das wird in der sechsten
Kulturepoche sein. Da sehen wir, welchen tiefen Sinn es hat, dafi wir
aufeinanderfolgende Verkorperungen durchmachen. Es hat den
Sinn, daft wir uns dadurch nach und nach aneignen diejenigen Fahig-
keiten, welche wir als die der menschlichen Seele kennen, und im
weiteren Umfange auch diejenigen, welche dann iiber das blofie See-
lenleben hinausgehen.
Also wahrend der agyptisch-chaldaischen Kultur haben unsere
Seelen sich angeeignet die Krafte der Empfindungsseele und haben
diese Krafte zur Entfaltung gebracht, wahrend der griechisch-lateini-
schen Zeit die Krafte der Verstandesseele oder Gemiitsseele. Bis zur
Verstandesseele mufite der Mensch normalerweise heraufdringen,
dann konnte der Christus-Impuls auf ihn ausgeiibt werden.
Nun aber war in einer ganz verschiedenen Weise diese Ausbildung
an den verschiedenen Punkten der Erde geschehen. Wenn wir nam-
lich mit einer gewissen Bequemlichkeit der Seele glauben wollten,
dafi sich in der Entwickelung der Menschheit alles moglichst einfach
vollzieht, so werden wir niemals zum Begreifen der Menschheitsent-
wickelung kommen konnen. Vieles mull man kennenlernen, um die
grofien Gedanken der leitenden Weltwesen einigermafien nachden-
ken zu konnen! Und es ist der grofite Hochmut, wenn der Mensch
den Satz ausspricht, dafi die Wahrheit einfach sei; denn da will er die
Wahrheit nach seiner Bequemlichkeit drechseln. Es ist nur eine
Frucht der Bequemlichkeit, wenn gesagt wird, die Wahrheit miisse
einfach sein. Aber die Wahrheit ist eine komplizierte, weil der Geist
der leitenden Weltwesen von uns nur begriffen werden kann, wenn
wir die hochsten Anstrengungen machen, um uns in die Gedanken
der leitenden Weltengeister ~ auch bis in die subtilsten Gedanken
hinein - zu vertiefen. So diirfen wir auch nicht glauben, dafi wir
schon alles erschopft hatten, wenn wir sagen: Unsere Seelen haben
sich durch die agyptisch-chaldaische Kultur, durch die griechisch-
lateinische Kultur und durch unsere jetzige Kulturepoche hinaufent-
wickelt. Versetzen wir uns fiir einen Augenblick in die Zeit, da es
noch kein griechisch-lateinisches Wesen gab, sondern nur erst die
agyptisch-chaldaische Kultur.
In dieser Zeit lebten in den Gegenden Griechenlands und* in den
Landern des romischen Reiches auch Menschen; sie lebten sozusa-
gen vor der griechisch-lateinischen Zeit in den Landern der spateren
griechisch-lateinischen Kultur. Und auch in unseren Gegenden, auf
dem Boden, den wir heute betreten, lebten Menschen in der Zeit, als
die agyptisch-chaldaische Kultur sich in Asien und Afrika abspielte.
Wahrend in Asien und Afrika zur Zeit der agyptisch-chaldaischen
Kultur gewisse Seelen im eminentesten Sinne das durchmachten,
was sie vorbereiten sollte zum Empfang des Christus-Impulses, leb-
ten in den Gegenden der spateren griechisch-lateinischen Kultur an-
dere Seelen, die sich vorbereiteten, etwas ganz anderes hinzuzubrin-
gen zur Gesamtentwickelung der Menschheit. Ebenso lebten in un-
seren Gegenden Menschen, die sich zu etwas anderem vorbereiteten.
Nicht nur, dafi in den aufeinanderfolgenden Zeiten unsere Seelen
verschiedene Fahigkeiten aufnehmen, sondern in denselben Zeiten
leben die Seelen auch nebeneinander. Dadurch wird in der verschie-
densten Weise auf die Seelen gewirkt, und dadurch entsteht eine wei-
tere Komplikation in der Entwickelung. Es wird damit der Mensch-
heitsentwickelung mehr gebracht, als wenn alles in gerader Linie
fortliefe. In der Tat mufken Vorbereitungen gemacht werden so-
wohl auf griechisch-lateinischem Boden als auch in unseren Gegen-
den, damit von den verschiedensten Seiten her in die Kulturentwik-
kelung das Rechte mit hineingebracht wurde. Eine ganz andere Auf-
gabe hatten die asiatischen und afrikanischen Volker, eine ganz ande-
re die sudeurop'aischen Volker, und wiederum eine ganz andere Auf-
gabe hatten die Volker des mittleren und des nordlichen Europa. Sie
hatten alle ganz verschiedenes hinzuzubringen zu der Gesamt-
Menschheitsentwickelung, und sie konnten verschiedenes hinzu-
bringen, weil ihre Anlagen und ihre ganze Ausbildung eine wesent-
lich andere war als die der andern.
Wenn wir namlich unseren Blick richten auf die agyptisch-chalda-
ischen Volker, auf die Seelen, welche gerade in der "agyptisch-chalda-
ischen Kultur ihren Hohepunkt erreichten, so miissen wir sagen:
diese Volker entwickelten damals gewisse Fahigkeiten der Empfin-
dungsseele, welche man eben ganz besonders entwickeln kann,
wenn man jene wunderbaren Lehren aufnimmt, die damals aus den
agyptischen Heiligtiimern flossen, oder die wunderbare Astrologie,
die aus den chaldaischen Heiligtiimern kommen konnte. Was aus
den verschiedenen Kulturst'atten fliefit, ist dazu da, die Seelen vor-
wartszubringen. Denn im Grunde ist die wahre Bedeutung dessen,
was aus den verschiedenen Kulturstatten fliefk, nicht dasjenige, was
diese Kulturstrdmungen als Inhalt haben, sondern was sie zur Ent-
wickelung der menschlichen Seele beitragen. Der Inhalt vergeht!
Und nur die, welche im tieferen Sinne gar nicht bei Trost sind, kon-
nen glauben, dafi in einigen Jahrhunderten unsere heutige Wissen-
schaft nicht ebenso hinuntergesunken sein wird in den Schofi der
Vergessenheit, wie gewisse Dinge der agyptisch-chaldaischen Kultur
in die Vergessenheit heruntergesunken sind. Wer glauben wiirde,
dafi in der kopernikanischen Weltanschauung ewige Errungenschaf-
ten gegeben sind, der irrt sich ganz gewaltig; sie wird spater ebenso
etwas Uberwundenes sein wie die Errungenschaften der agyptischen
Kultur heute. Ihrem Inhalte nach gehen diese Dinge vorbei wie auch
manches andere in der Menschheitsentwickelung. Wir treten zum
Beispiel hin vor jenes wunderbare Bild, welches Ihnen alien wenig-
stens in Abbildungen bekannt sein wird, das «Abendmahl» von Leo-
nardo da Vinci. Wenn wir es heute in Mailand sehen wollen, sehen
wir es nur noch in ganz schwachen Umrissen, und wir wissen, es
wird nicht lange dauern, dann wird nichts mehr zu sehen sein von
dem, wohinein Leonardo da Vinci seine beste Kraft gelegt hat.
Ebensowenig wird spater einmal noch etwas zu sehen sein von den
herrlichen Werken Raffaels, welche heute die Seele so tief ergreifen,
wenn Sie sie auf sich wirken lassen. Alle diese Werke werden in
Staub zerfallen, und eine Erinnerung daran wird auf dem physischen
Plan nicht mehr da sein. Der Inhalt dieser Werke wie der Inhalt der
Kulturen geht in den Tod hinunter. Aber wenn wir zum Beispiel
vor diesen Bildern stehen, dann sollen wir daran denken, dafi sie Raf-
faels Seele entflossen sind, und dafi Raffaels Seele eine andere gewor-
den ist, nachdem sie diese Bilder aus sich hervorgezaubert hatte, als
sie vorher war. Und die Millionen und Millionen von Menschen, die
sich daran erheben, nehmen den Inhalt der Bilder in ihre Seelen auf
und werden dadurch etwas anderes. Und wenn die ganze Erde ein-
mal in Staub zermalmt sein wird - was sie ganz gewift sein wird - ,
dann wird von den aufieren Einrichtungen der Kulturen nichts mehr
vorhanden sein, aber was die Seelen aufgenommen haben, das wird
in die Ewigkeit mit hiniibergehen. Fur die Menschenseelen ist das
da, was die Kulturen bieten, was aus Agyptens und Chaldaas Heilig-
tiimern geflossen ist an fur die damalige Zeit hehrem Weisheitsin-
halt. Vorwarts kommen sollten die Menschenseelen um ein entspre-
chendes Stiick. Und um was sie vorwarts gekommen sind, um das
waren sie reifer, wieder neue Giiter entgegenzunehmen; jene Giiter,
die dann in der griechisch-lateinischen Kultur wieder die Seelen um
ein Stiick vorwarts brachten. Hatten unsere Seelen nicht das aufge-
nommen, was sie in der griechisch-lateinischen Zeit aufnehmen
konnten, so konnten sie sich jetzt nicht in die Bewufkseinsseele hin-
einleben. Das ist der Fortgang in der Zeit.
Wenn wir uns an manches erinnern, was auch in den offentlichen
Vortragen gesagt worden ist, so wissen wir, dafi in den drei Seelen-
gliedern dasjenige wirkt, was wir das Ich nennen. Aus dem Chaos
der seelischen Erlebnisse, die uns in der Empfindungsseele, Verstan-
desseele und Bewufkseinsseele entgegentreten, entwickelt das Ich
sich nach und nach heraus, kristallisiert sich aus all dem heraus, aber
nicht in gleicher Weise an den verschiedenen Punkten der Erde.
Wahrend zum Beispiel in Asien und Afrika, als die agyptisch-chalda-
ische Kultur vor sich ging, die Menschen sich so entwickelten, dafi
sie dort noch lange auf ihre Seele haben wirken lassen die Offenba-
rungen der chaldaischen und agyptischen Heiligtiimer, hatten die
Volker Europas, die davon entfernt waren, sich so entwickelt, dafi
sie gewissermafien schon etwas vorausgenommen hatten. In den eu-
ropaischen Gegenden hatten die Menschen in der Empfindungsseele
schon in gewisser Weise das Ich entwickelt, ein starkes Gefuhl, eine
starke Empfindung fur das Ich.
Hier sind wir an einem ganz unendlich wichtigen Punkt. Nach
Asien und Afrika hiniiber sind die Menschen gezogen, die mit ihrem
Ich warteten zu der Zeit, wo in der Empfindungsseele schon vorher
das entwickelt war, was durch die agyptischen und chaldaischen
Heiligtiimer entwickelt werden konnte. Da waren in der Gegend
der agyptisch-chaldaischen Kultur Seelen inkarniert, welche mehr
oder weniger ohne ein deutliches Gefuhl von der Ichheit zu haben,
hohe Lehren, eine hohe Kultur aufnahmen. In eine sich ihres Ich
noch nicht bewufite Empfindungsseele wird im alten Chaldaa die
hohe Kultur, die dazumal bestanden hat, hineinversenkt. Hier im
Norden wird nicht eine so hohe Kultur in die Seele versenkt. Da
bleibt die Seele mehr oder weniger unkultiviert, aber sie entwickelt
dafur in dieser Unkultur, in dieser nicht von irgendwelchen Offen-
barungen der Heiligtiimer durchgluhten Empfindungsseele ein Ich-
Bewufitsein. Wir konnen sagen: Bei den agyptisch-chaldaischen Vol-
kern verspatet sich das Ich-Bewufitsein, es lafit zuerst die Empfin-
dungsseele eine gewisse Kultur aufnehmen, bis die spateren Seelen-
glieder entwickelt sein werden. In Europa wartet das Ich nicht, son-
dern es entwickelt sich schon in der Empfindungsseele. Es wartet
aber dafiir mit der Aufnahme gewisser Kulturgiiter, bis die spateren
Seelenglieder entwickelt sein werden. So haben wir in Asien und
Afrika solche Seelen verkorpert, die sich ihres Ich noch fast gar nicht
bewufit sind, dagegen etwas wie Eingebungen hoher Offenbarungen
haben in der Empfindungsseele. In Europa haben wir Seelen, die kei-
ne besonders hohe Kultur haben, die aber ihr individuelles Ich beto-
nen, die in sich als Menschen hineinschauen und sich als Menschen
fiihlen. Zwischen beiden Extremen stehen die griechisch-lateini-
schen Volker drinnen, welche besonders die Aufgabe hatten, die Fa-
higkeiten der Verstandesseele zu entwickeln. Bei ihnen war es so,
dafi sie das Ich in der Verstandesseele entwickelten und auch gleich-
zeitig gewisse Kulturen in der Verstandesseele aufnehmen konnten.
So dafi also die agyptisch-chaldaische Kultur mit dem Ich wartete bis
in eine spatere Zeit, wahrend die europaische Kultur dieses Ich friih-
zeitig entwickelte. In der griechisch-lateinischen Kultur hielt sich das
in gewissem Sinne die Waage, da wurde gleichzeitig mit dem Ich eine
gewisse Kultur entwickelt.
Damit deuten wir auf ein grofies Geheimnis unserer menschlichen
Entwickelung, ohne dessen Kenntnis wir niemals verstehen, warum
gerade der Christus-Impuls jenen ungehinderten Einflufi und Ein-
gang in Europa gefunden hat.
Warum das? Hatte der Christus in Europa erscheinen konnen,
sich in Europa verkorpern konnen im Fleische? Nein, das hatte er
nicht konnen. Er erschien in der griechisch-lateinischen Zeit, in wel-
cher die Verstandesseele ausgebildet worden ist. Die war dazu geeig-
net, gerade den Christus sozusagen entgegenzunehmen. Aber nie
hatte der Christus in Europa erscheinen diirfen, weil dort das starke
Ich-Gefuhl geblieben war. Dieses starke individuelle Ich-Gefuhl war
nicht geeignet, einen einzigen Menschen zu erzeugen, der vor alien
iibrigen den Vorzug hatte, dafi er allein das Hochste aufnehmen
konnte. Ein verfriihtes Ich-Gefuhl, ein zu grofies Gefiihl fur die
Gleichheit der Menschen hatte sich in den europaischen Landern
entwickelt. Da ware es unmoglich gewesen, dafi eine Personlichkeit
iiber die anderen so hinausgeragt hatte, wie jene Personlichkeit iiber
ihre Zeitgenossen hinausragte, die in Palastina das Gefafi bilden soli-
te fur den Christus. So intensiv wie in Europa durfte auf emer frii-
hen Stufe das Ich-Gefiihl nicht erscheinen, wenn der Christus einen
Korper finden sollte, um sich zu verkorpern. Er mufite also gerade
dort erscheinen, wo an der Grenze der agyptisch-chaldaischen und
der griechisch-lateinischen Kultur es moglich war, einen solchen
Korper auszubilden, der noch nicht in sich das verfruhte Ich-Gefiihl
trug, der aber dennoch das tiefste Verstandnis hatte fur ein Begreifen
der geistigen Welt, das aufgenommen war in der agyptischen und
chaldaischen Kultur. Wenn aber Europa nicht die Fahigkeit hatte,
den Leib zu liefern fur den Christus, so hatte es doch dadurch, dafi es
zu friih in der Morgenrote des neueren Daseins das Ich ausgebildet
hatte, vor alien anderen Errungenschaften das voile Verstandnis da-
fur, nachdem der Christus einmal da war, um den Menschen das voi-
le Bewufitsein vom Ich zu bringen, dieses Ich-Bewufitsein zu begrei-
fen, aus dem Grunde, weil die europaischen Volker das Ich-Gefiihl
zu friih aufgenommen hatten und mit ihm gleichsam zusammenge-
wachsen waren.
Das miissen wir beriicksichtigen, wenn wir den ganzen Aufgang
der neueren Kultur verstehen wollen. In Asien und Afrika finden
wir Menschen, die viel wissen iiber die Geheimnisse der Welt, die
viel konnen in der Herstellung gewisser Symbole. Kurz, sie haben
ihre Empfindungsseele so kultiviert, dafi sie ein reiches Seelenleben
haben, aber ihr Ich-Gefiihl ist schwach. In Europa finden wir Men-
schen, die weniger Kultur haben durch das, was man durch Offen-
barungen von aufien sich aneignen kann, dafur finden wir aber dort
den Typus des Menschen, der sich in sich sucht, der in sich die feste
Stiitze findet. So war in Asien vorbereitet der Boden fur die Erschei-
nung des Christus, dort konnte es einen Leib geben, in den der Chri-
stus einziehen konnte; und in Europa finden wir die Menschen am
besten vorbereitet zu einem Verstandnis fur den Bringer des Ich-Be-
wufitseins. Den europaischen Volkern brachte er das, wonach man
gelechzt hatte. Daher entwickelt sich gerade in Europa jene wunder-
bare Mystik, die den Christus in die eigene Seele, in das Ich aufneh-
men wollte: die christliche Mystik.
So wird an den verschiedenen Punkten der Erde die Menschheit
vorbereitet durch die weise Lenkung der Welt, daft ein jedes Entwik-
kelungsmoment zu seinem Recht kommt. Das ist eine der groften
Errungenschaften der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung,
daft man immer mehr das Gefuhi erhalt, wie weise alles in der
Menschheitsentwickelung und in der ganzen Welt eigentlich vor
sich gegangen ist, wie durch Jahrtausende auf europaischem Boden
die Seelen vorbereitet sind, daft sie so fruh wie moglich einen festen
Punkt im eigenen Innern hatten, und daft sie, um diesen festen
Punkt zu entwickeln, sogar zuriickgehalten wurden in den Kraften,
die in Asien so hoch ausgebildet waren. Daher nimmt der Kultur-
strom von Asien heriiber seinen Weg, das starke Gefuhi der Ich-Per-
sonlichkeit geht in Europa auf. Ja, wir konnen geradezu wieder mit
Fingern hinweisen darauf, wie das Adriatische Meer fast eine festbe-
stimmte Grenze bildet zwischen einem sogar noch etwas schwache-
ren Ich-Gefuhl in Griechenland einerseits, wo sich der Mensch
noch nicht so fuhlte als einzelne individuelle Personlichkeit, son-
dern mehr als Athener, als Spartaner, Thebaner, angehorig seiner
Polis, und zwischen den romischen Kulturgegenden andererseits, wo
das starke Ich-Gefiihl ganz wesentlich ausgebildet ist im Bewufttsein
des romischen Burgers, der als Personlichkeit fest steht auf seinem
Boden. Da sehen wir in Griechenland noch das im Menschen, was
man bezeichnen konnte: Das Ich ist doch noch etwas zunicktre-
tend, es wird doch noch mehr von der Auftenwelt entgegengenom-
men, mehr auf eine Art, wo das Ich nicht dabei zu sein braucht.
Und iiberschreiten wir das Adriatische Meer, so kommen wir
nach Rom und sehen fest auf seinen Beinen stehen, mit dem schon
gefiihlten Ich, den romischen Burger. Das alles hangt mit tieferen,
mit bedeutsamen Untergriinden zusammen. Diese Dinge gehen in
der Welt nicht vor sich, ohne daft fur die Dinge, welche sich auf dem
physischen Plan abspielen, die entsprechenden Ereignisse in der
geistigen Welt sich vollziehen. Wir sehen, daft in der griechischen
Kultur noch ein starker Einschlag von zuriickgehaltenem Ich sich
findet. Viel wird dort noch unpersonlich aufgenommen. Der Grie-
che fiihlt sich nicht als einzelner Burger, sondern als Glied des athe-
nischen, spartanischen oder thebanischen Organismus. Das muft ab-
gestreift werden. Es mufi die Sehnsucht des Menschen, von aufien
entgegenzunehmen, verschwinden, und der Mensch mufi seinen
Einzug halten in das Innere der Seele, wenn er immer mehr ein
abendlandischer Mensch wird.
Was die grofien Massen bilden soil, das mufi vorgelebt werden von
den grofien Fuhrern, den grofien Individualitaten der Menschheit.
Da sehen wir, wenn wir etwas vor unsere Seele treten lassen, worauf
wir wiederholt hingewiesen haben, dafi der Grieche noch ein starkes
Bewufitsein hatte, dafi dasjenige, was ihm von aufien gegeben wird,
ohne das Innere seiner Personlichkeit stark zu entwickeln, ein be-
sonders Wert voiles ist. Noch einmal erinnere ich an den Ausspruch
eines hochgebildeten Griechen, der uns tief hineinblicken lafit in das
Sehnen des griechischen Volkes: Lieber ein Bettler sein in der Ober-
welt als ein Konig im Reiche der Schatten! - Noch nicht ist begrif-
fen der grofie Wert des Unsichtbaren, des iibersinnlichen Lebens. Es
wird aus der Umgebung herausgeholt, was ohne das Ich herausge-
holt werden kann. Und es ist nun tief ergreifend, gerade an diesem
Punkt zu sehen, wie an der Wende der Zeiten eine grofie fixhrende
Personlichkeit wie ein Markstein dasteht, um abzulegen die Gesin-
nungen des Friiheren und aufzunehmen die Gesinnungen des Neue-
ren, um gleichsam weithin schallend fiir die Geistwelt zu sagen: Jetzt
soli eine Zeit kommen, wo nicht mehr blofi aufgenommen werden
soli, was ohne das Ich einfliefit in die menschliche Personlichkeit,
sondern wo das aufgenommen werden soil, was durch das Ich in die
menschliche Personlichkeit kommt!
Diese Tat hat sich vollzogen in einem der grofien Weisen jenes
griechischen Altertums, das sich zum Teil abgespielt hat auf der Insel
Sizilien, in Empedokles. In mancher Legende, die heute nur so hin-
erzahlt wird, ruht etwas aufierordentlich Tiefes. Von Empedokles,
dem grofien Weisen, der nicht nur ein grofier Philosoph war, son-
dern ein Eingeweihter in die tiefen Geheimnisse der Zeit, der einer
der grofiten Staatsmanner aller Zeiten gewesen ist und zugleich Op-
ferpriester in Agrigent war, von ihm erzahlt die Legende, berichtet
aber auch die okkulte Wahrheit, dafi er, nachdem er seine Aufgabe
in Sizilien erfullt hatte, seinen Leib in den Atna versenkte, um zu
vereinigen seine aufieren Hullen mit dem Boden Siziliens, um damit
gleichsam zu dokumentieren: Jetzt soil kommen der feste Glaube an
das Ich, wenn das Aufkre auch hinschwindet! - Das Opfer der au-
fieren Hiille des Empedokles wurde vollbracht damals, als er seine
Hullen hingab dem Atna. Dahinter liegt eine tiefe okkulte Wahr-
heit. Fiir den, der nach Sizilien kommt, wird heute noch unter spiri-
tuellen Ereignissen dieses stehen: dafi er in der Luft Siziliens, wenn
er sie geistig atmet, heute noch die Nachwirkung der Tat des Empe-
dokles findet. Empedokles' Seele hat sich weiter inkarniert; sein
Leib hat eine besondere Bedeutung dadurch erhalten, dafi er den Ele-
menten bewufit iibergeben worden ist, so dafi man ihn heute findet
in der geistigen Atmosphare Siziliens. Empedokles 5 Leib bildet einen
Bestandteil der geistigen Atmosphare Siziliens.
Es war mir ein wichtiger Augenblick - und wir diirfen ja in unse-
rem Zweige auch iiber solche Dinge miteinander reden - , als ich vor
einigen Wochen unseren Palermoer Freunden iiber ihren Empe-
dokles in der unmittelbaren Nahe jenes Ereignisses dasselbe
sagen konnte, was ich Ihnen jetzt sagte: Wer mit Bewufitsein geistig
betritt eure Statte hier in Sizilien, der atmet heute noch geistig das-
jenige, was in die Luft Siziliens gekommen ist durch den Opfertod
des Empedokles!
So sehen wir, wie das, was wir aufierlich, raumlich mit dem Adria-
tischen Meer andeuten konnten - die Grenze zwischen Ost und
West -, angedeutet wird durch einen grofien Fiihrer der Mensch-
heit, der, indem er weiter wirken sollte im Westen, dasjenige bewufit
abstreift, wodurch man wachsen konnte driiben im Osten, und ret-
ten will fiir die weitere Entwickelung das Bestehen dessen, was erha-
ben ist iiber alle Elemente des aufieren physischen Planes.
Es ist etwas Gewaltiges, in diese Unterschiede hineinzuschauen,
denn sie zeigen, wie auf getrennten Gebieten auch Getrenntes vorbe-
reitet worden ist, damit in der Mannigfaltigkeit auch das Grolke er-
reicht wer den konnte. Durch die Zusammenwirkung des Mannigfal-
tigsten mufi das Ziel der Gesamtentwickelung fiir die Menschheit er-
reicht werden. Daraus konnen wir sehen, dafi der Christus, nach-
dem er im Osten erschienen war, hinuberzog nach dem Westen und
dort aufgenommen wurde von denen, die vorbereitet waren mit
einem starken Ich-Bewufitsein, um verstehen zu konnen den Bringer
des starken Ich-Bewufitseins. Das war das Geheimnis vom Eintritt
des Christus in den Okzident, daft er vorbereitete Seelen fand, und
dafi ihn diese Seelen aufnahmen. So sehen wir im Osten die Mensch-
heit vorbereiten alles, was moglich macht, dafi ein Korper oder eine
Leiblichkeit entstehen kann, bestehend aus physischem Leib, Ather-
leib und astralischem Leib, in welche der Christus einziehen kann,
der durch das Ich-Bewufksein und mit dem Ich-Bewufksein den Im-
puls der Liebe auf die Erde bringt. Die Liebe ist das, was in ihrer see-
lischsten, geistigsten Form mit dem Christus der Erde gebracht
wird. Die Liebe, wie wenn sie entstehen wurde sozusagen in ihrer
seelisch-geistigen Form im Osten, so betrachten wir sie zuerst; und
wie wenn sie sich verbreiten wurde nach dem Westen und hier ver-
standen wurde, so betrachten wir die Entwickelung weiter.
Wodurch konnte gerade im Westen das Ich-Bewufitsein so wirken,
da£ es sich verwandt fuhlte mit dem Christus? Was war mit den
Seelen geschehen, die friihzeitig das Ich-Bewufitsein aufgenommen
hatten?
Die agyptisch-chaldaischen Volker warteten mit der Entwickelung
des Ich bis zur Bewufitseinsseele, die griechisch-lateinischen Volker
entwickelten das Ich schon in der Verstandes- oder Gemiitsseele, die
Kultur des europaischen Nordens hat das Ich-Gefiihl schon vorzeitig
in der Empfindungsseele entwickelt. Da war es friih in der menschli-
chen Seele darinnen. Es hatte also zusammengewirkt die Empfin-
dungsseele mit dem Ich-Bewufitsein hier in einer ganz anderen Weise
als irgendwo in der Welt. In Nordeuropa haben sich zuerst in der
Menschheitsentwickelung die Empfindungsseele und das Ich-Be-
wufitsein durchdrungen. Was war dadurch geschehen, dafi sich bei
den europaischen Volkern in der Empfindungsseele schon das Ich-
Bewufitsein festgesetzt hatte, bevor Christus in die Menschheitsent-
wickelung eingetreten war, und bevor sie aufgenommen hatten, was
sich in Asien entwickelt hatte?
Dadurch war mit der Empfindungsseele eine Kraft der menschli-
chen Seele entwickelt worden, die sich nur dadurch hatte entwickeln
konnen, dafi die Empfindungsseele, die noch ganz jungfraulich war
und unbeeinflulk von anderen Kulturen, sich durchdrungen hatte
mit dem Ich-Gefiihl. Und diese Seelenkraft ist das Gewissen gewor-
den: die Durchdringung von Ich-Gefiihl mit Empfindungsseele. Da-
her das merkwiirdig Unschuldige des Gewissens! Wie redet das Ge-
wissen? Es spricht in dem einfachsten, naivsten Menschen wie in der
kompliziertesten Seele. Es sagt unmittelbar: Das ist recht! Das ist
unrecht! - Ohne eine Theorie, ohne irgendeine Lehre. Mit der Ge-
walt eines Triebes, eines Instinktes wirkt das, was uns sagt: Das ist
recht! Das ist unrecht! - Nirgends sonst finden Sie das, was sich so
im Westen entwickelte, in der Art, wie wir es heute auseinanderge-
setzt haben. Deshalb wirft es seine ersten Strahlen wie eine Morgen-
rote voraus nach Griechenland und von dort nach Rom, und dort
tritt es uns sogar schon sehr stark entgegen. Da finden wir bei den
romischen Schriftstellern zuerst das Wort Gewissen: conscientia.
Wahrend wir es bei den Griechen nur sporadisch finden, in ersten
Andeutungen bei Euripides, finden wir es bei den Romern schon
sehr stark hervorgehoben, schon als allgemein gebrauchliches Wort.
Das ist der Einflu£ jener Kulturstromung, die dadurch entstanden
ist, dafi Empfindungsseele und Ich-Gefiihl sich durchdrungen haben,
daft das Ich-Gefiihl, das den Menschen hinauftragt vom Niederen
zum Hoheren, schon in der Empfindungsseele wie eine Gottesstim-
me spricht, wie sonst nur Triebe, Begierden und Leidenschaften in
der Empfindungsseele sprechen, und dort so spricht mit dem Drang,
das Richtige zu tun, um hinaufzudringen zu dem hoheren Ich.
So sehen wir in der Menschheitsentwkkelung bei den europa-
ischen Volkern zuerst das Gewissen entstehen. Von dort strahlt es
aus und teilt sich dann den anderen Menschen der Erde mit. So ist
durch eine weise Weltenlenkung vorbereitet worden, daft die
Menschheit auf einem Punkte so prapariert wurde, dafi das Gewis-
sen als ein Beitrag zur Gesamtentwickelung der Menschheit gebracht
werden konnte. Damit haben wir im Grunde schon alles gegeben,
was uns auch das Gewissen erklart. Wir haben jenes Undefinierbare
des Gewissens gegeben, das Herausdringen des Gewissens aus den
Tiefen der Seele. Das Gewissen redet so, wie ein Trieb redet, und es
ist doch kein Trieb. Diejenigen Philosophen, die es als Trieb schil-
dern, hauen weit daneben. Es spricht mit derselben Groftartigkeit,
mit der die Bewufitseinsseele selber spricht, wenn sie auftritt; aber
es spricht zugleich mit den elementaren, mit den urspriinglicheren
Kraften.
So sehen wir, wie auf der Erde driiben im Osten die Liebe auf-
taucht, hier im Westen das Gewissen. Das sind zwei Dinge, die zu-
sammengehoren: wie im Osten der Christus erscheint, wie im We-
sten das Gewissen erwacht, um den Christus als Gewissen entgegen-
zunehmen. In diesem gleichzeitigen Entstehen der Tatsache des
Christus-Ereignisses und des Verstandnisses des Christus-Ereignis-
ses, und in der Vorbereitung dieser zwei Dinge an verschiedenen
Punkten der Erde sehen wir waken eine unendliche Weisheit, die in
der Entwickelung vorhanden ist. Damit haben wir auf die Vergan-
genheit des Gewissens hingedeutet.
Wenn wir uns jetzt erinnern an das, was wir oft betont haben, dafi
wir jetzt, nachdem das Kali Yuga abgelaufen ist, in einem Ubergange
sind, wo sich neue Krafte zu entwickeln haben, dann werden wir es
begreiflich finden, dafi wir heute auch entgegengehen wichtigen Fra-
gen in bezug auf die Entwickelung unseres Gewissens. Wir haben
das letzte Mai betont, stark und scharf betont, dafi wir entgegenge-
hen einem neuen Christus-Ereignis, indem die Seele fahig werden
wird, den Christus in einem gewissen atherischen Hellsehen wahr-
zunehmen und das Ereignis von Damaskus in sich wiederzuerleben.
Daher diirfen wir die Frage aufwerfen: Wie wird es sein mit dem Pa-
rallelereignis, mit der Entwickelung des Gewissens in den Zeitrau-
men, in die wir uns hineinleben? - Diese Frage werden wir uns am
nachsten Sonntag, am 8. Mai, vorlegen und dadurch auch am besten
unseren Gedenktag begehen, indem wir auf das Lebendige der gei-
steswissenschaftlichen Bewegung hinweisen und darstellen, wie sich
die menschlichen Seelenkrafte in einem Ubergang befinden. Wir
werden sehen, dafi das Gewissen von den verschiedensten Seiten her
beleuchtet werden kann. Ganz exoterisch soil das im offentlichen
Vortrag am nachsten Donnerstag geschehen, aber auch selbst da
kann schon manches vorausgesetzt werden, weil diese offentlichen
Vortrage schon (lurch eine Reihe von Jahren gehen. Man kann so
tief sprechen iiber das Gewissen, wie wir heute gesprochen haben,
man kann so exoterisch sprechen wie am nachsten Donnerstag, und
man kann noch tiefer iiber das Gewissen sprechen. Das wird noch
einige Zeit dauern, bis wir dazu in der Lage sein werden.
SIEBENTER VORTRAG
Berlin, 8. Mai 1910
Am achten Mai, dem heutigen Tage, begehen wir als Theosophische
Gesellschaft den Weifien Lotus-Tag, den man in der aufieren Welt,
so wie sie ihre Bezeichnungen heute hat, als den Todestag bezeichnet
der Anregerin jener geistigen Stromung, innerhalb welcher wir ste-
hen. Uns liegt es naher, eine andere Bezeichnung fur diese unsere
Festlichkeit des heutigen Tages zu wahlen, jene Bezeichnung, die aus
unseren Erkenntnissen der geistigen Welt hergenommen ist und die
etwa heifien mufke, der Ubergang von einer Wirksamkeit innerhalb
des physischen Planes zu einer anderen Wirksamkeit innerhalb der
geistigen Welten. Denn uns ist es ja wohl eine nicht nur innigste
Uberzeugung im gewohnlichen Sinne des Wortes, sondern eine im-
mer mehr aufgehende Erkenntnis, dafi wir es zu tun haben bei dem,
was in der Au£enwelt der Tod genannt wird, mit dem Ubergang
von einer Arbeit, einer Wirksamkeit, welche angeregt ist durch die
Eindriicke der aufieren physischen Welt, zu einer solchen Wirksam-
keit, welche angeregt ist unmittelbar aus der geistigen Welt. Und in-
dem wir uns heute erinnern an die grofie Anregerin H. P. Blavatsky
und an diejenigen, welche als fiihrende Personlichkeiten heute auch
schon hiniibergegangen sind in dieses geistige Reich, wollen wir ins-
besondere versuchen, uns eine Vorstellung davon zu bilden, wie wir
selbst unsere geistige Bewegung halten, damit sie vorstellen kann
eine Fortsetzung jener Wirksamkeit, welche die Griinderin voll-
bracht hat auf dem physischen Plan bis zu ihrem Abgang von dem-
selben, eine Fortsetzung dieser Wirksamkeit auf der einen Seite, aber
auch eine Moglichkeit dafiir, dafi diese Begriinderin aus den geistigen
Welten heraus fortwirken kann in unserer Gegenwart und in die
Zukunft hinein.
An einem solchen Tage ziemt es sich wohl, dafi wir gewisserma-
fien unterbrechen die Art und Weise, wie wir uns sonst in diesen
Versammlungen den geisteswissenschaftlichen Betrachtungen und
dem spirituellen Leben hingeben, und dafi wir gleichsam eine Art
Gewissenserforschung vornehmen, eine Art Riickschau auf das, was
uns aus der theosophischen Bewegung heraus deren Wesen und de-
ren Pflichten vor Augen fiihren kann, was uns auf der anderen Seite
in einer Art von Vorschau vor Augen fiihren soil, was in der Zu-
kunft diese theosophische Bewegung sein soil, was wir zu tun, was
wir zu lassen haben.
Durch ganz besondere Umstande, durch gewisse geschichtliche
Notwendigkeiten ist in der neueren Zeit das ins Leben gerufen wor-
den, was wir als theosophische Bewegung behandeln. Sie wissen, dafi
es sich dabei nicht wie bei manchen anderen geistigen oder sonstigen
Bewegungen oder Vereinigungen darum handelt, daft eine oder meh-
rere Personlichkeiten diese oder jene Ideale sich vorsetzen, und weil
sie fur diese Ideale gerade aus den Bedingungen ihres Gemiites, ihres
Herzens heraus begeistert sind, nun versuchen, andere Menschen
auch dafiir zu begeistern, um Vereine, Gesellschaften zu begriinden
und diese Ideale, fur die sie personlich entflammt sind, in Wirklich-
keit umzusetzen. In dieser Weise diirfen wir die theosophische Be-
wegung, wenn wir sie richtig verstehen, nicht auffassen. Wir werden
sie nur dann richtig verstehen, wenn wir sie auffassen als geschichtli-
che Notwendigkeit unseres gegenwartigen Lebens, als etwas, was,
gleichgultig, wie die Menschen dariiber empfinden und fiihlen mo-
gen, kommen rnufke, weil es sozusagen im Schofie der Zeit lag und
geboren werden mulke. Als was kann denn diese theosophische Be-
wegung aufgefafk werden? Aufgefafit kann sie werden als ein Herun-
tersteigen, ein neues Heruntersteigen von geistigem Leben, von
geistiger Weisheit und geistigen Kraften aus den ubersinnlichen Wel-
ten in die sinnlich-physische Welt. Solches Heruntersteigen von
geistigem Leben, geistiger Weisheit und geistigen Kraften mufke ja
und wird in der Zukunft immer wieder geschehen miissen zur Fort-
entwickelung der Menschheit. Es kann naturlich heute nicht die
Aufgabe sein, auf alle die einzelnen grofien Impulse hinzuweisen,
durch welche geistiges Leben heruntergeflossen ist aus den ubersinn-
lichen Welten, damit sozusagen das altgewordene Seelenleben der
Menschheit erneuert wurde. Das ist im Laufe der Zeit ofter gesche-
hen. Nur auf einiges soil hingewiesen werden.
In urferner Vergangenheit, nicht lange nachdem die grofie atlanti-
sche Katastrophe hereingebrochen war, die sich in den Uberlieferun-
gen der verschiedenen Volker als die Sintflutsage erhalten hat, da hat
jener Impuls stattgefunden, den wir bezeichnen konnen als das Ein-
fliefien geistigen Lebens in die Menschheitsentwickelung durch die
alten heiligen Rishis. Dann haben wir jenen anderen Strom geistigen
Lebens, der herunterfliefit in die Menschheitsbewegung durch den
grofien Zarathustra oder Zoroaster. Dann finden wir einen andern
solchen Strom geistigen Lebens in dem, was dem alt-israelitischen
Volke in der Moses-Offenbarung zugekommen ist. Und endlich ha-
ben wir den grofiten Impuls, das gewaltigste Hineinfliefien iibersinn-
lichen Lebens in die sinnliche Welt durch die Erscheinung des Chri-
stus Jesus auf der Erde. Der gewaltigste Impuls ist dies gegeniiber al-
ler Vergangenheit und, wie wir auch hervorgehoben haben, gegen-
iiber aller Zukunft der Erdenentwickelung. Aber ebenso ist betont
worden, dafi immer neue Impulse kommen miissen, dafi neues geisti-
ges Leben und eine neue Art, das alte geistige Leben aufzufassen, ein-
stromen mufi in die Menschheitsentwickelung. Denn sonst wiirde
der Baum der Menschheitsentwickelung, der griinen mufi, wenn die
Menschheit ihr Ziel der Entwickelung erreichen soil, diirr werden
und absterben. Die gewaltige Christus-Lebenswelle, die eingeflossen
ist in die menschliche Entwickelung, mufi immer besser und besser
begriffen werden durch neue geistige Impulse, die in unser Erden-
leben einfliefien.
Als nun unser Zeitalter heranriickte, unser 19. Jahrhundert, da
war fur die Menschheitsentwickelung wieder eine Zeit gekommen,
welche einen neuen Einschlag, einen neuen Lebensimpuls forderte.
Wieder mufken herunterfliefien aus den ubersinnlichen Welten in
unsere sinnliche Welt hinein neue Anregungen, neue Offenbarun-
gen. Das war eine Notwendigkeit, die man hatte empfinden sollen
auf der Erde selber, die man aber namentlich empfand in jenen Re-
gionen, von denen die Lenkung alien Erdenlebens ausgeht in den
geistigen Regionen. Es ware nur kurzsichtige menschliche Betrach-
tung, wenn man sich etwa sagen wollte: Ach, wozu immer neues
Einfliefien von ganz neuen Wahrheitsarten? Wozu immer neue Er-
kenntnisse und neue Lebensimpulse? Was im Christentum zum Bei-
spiel gegeben ist, das ist ja gegeben, und das konnte einfach in der
gleichen Weise fortleben!
Diese Betrachtungsweise ware vor einem hoheren Gesichtspunkt
eine eminent egoistische. Das ist sie wirklich! Und daft sich solche
egoistische Betrachtungsweise gerade bei denjenigen Menschen heu-
te so haufig geltend macht, welche glauben, recht fromm und reli-
gios zu sein, das ist um so mehr ein Beweis dafiir, dafi es eine Auffri-
schung des geistigen Lebens bedarf. Wie oft horen wir heute die Re-
densart: Wozu die neuen geistigen Stromungen? Wir haben die alten
Uberlieferungen, was uns durch die geschichtlichen Zeiten herauf
erhalten worden ist, lassen wir uns das nicht verderben durch dasje-
nige, was die wissen wollen, die nur immer vorgeben, alles besser zu
wissen! - Das ist ein egoistischer Ausdruck der menschlichen Seele.
Nur wissen die nicht, welche ihn tun, daft er ein so eminent egoisti-
scher ist. Denn die ihn tun, wollen gleichsam nur fur die Bedurfnisse
der eigenen Seele sorgen. Sie fuhlen in sich selber: Wir sind ja zufrie-
den mit dem, was wir haben! - Und nun stellen sie das Dogma, das
furchtbare Gewissensdogma auf: Wenn wir zufrieden sind in unserer
Art, dann miissen die, welche von uns lernen sollen, die unsere
Nachkommen sind, in gleicher Art zufrieden sein wie wir. Alles
mufi nach unserem Herzen, nach unserem Wissen gehen! - das ist
eine Redensart, die man in der aufteren Welt sehr, sehr oft hort. Und
es ist nicht bloft Engigkeit der Seele, es ist etwas, was verkniipft ist
mit dem, was eben gekennzeichnet worden ist als ein egoistischer
Zug dieser Menschenseele. Und im religiosen Leben konnen unter
der Maske der Frommigkeit die Seelen vielleicht gerade am aller-
egoistischsten sein.
Ein Blick in unsere Umwelt, wenn wir ihn mit Verstandnis tun
wollen, konnte gerade jene Menschen, denen es ernst ist mit der
geistigen Entwickelung der Menschheit, das eine lehren: daft die
Menschenseele sich entwickelt, und daft immer mehr und mehr von
jener Art und Weise abbrockelt, wie man durch Jahrhunderte hin-
durch den Blick hingelenkt hat gerade auf den groftten Impuls der
Menschheitsentwickelung, auf den Christus-Impuls. Ich erwahne
sonst nicht gern zeitgenossische Dinge, weil das, was heute im aufie-
ren geistigen Leben geschieht, wirklich zumeist zu unbedeutend ist,
als dafi es dem ernsten Betrachter tiefere Seiten ansprechen konnte.
Aber dem Zeitbetrachter sollte es dennoch eine Gewissensfrage sein,
was vielfach heute im geistigen Leben geschieht, Man konnte in den
letzten Wochen zum Beispiel in Berlin fast vor keiner Anschlagsaule
vorbeigehen, ohne darauf die Ankiindigung eines Vortrages oder
einer Versammlung zu finden mit dem Thema: Hat Jesus gelebt? -
Sie alle wissen vielleicht, dafi die Anregung zu dieser Diskussion, die
in den weitesten Kreisen gepflogen worden ist, zum Teil mit recht
radikalen Waffen, gegeben hat die Anschauung eines deutschen
Philosophie-Professors - eines Schulers des Verfassers der «Philoso-
phie des Unbewufiten», Eduard von Hartmann - des Professors Dr.
Arthur Drews, und besonders dessen Buch «Die Christus-Mythe».
Was in diesem Buche zu finden ist, das ist dann weiter bekannt-
geworden durch einen Vortrag des Professors Drews, der hier in
Berlin gehalten worden ist unter dem Titel «Hat Jesus gelebt?»
Nun kann es heute naturlich nicht meine Aufgabe sein, auf die
Einzelheiten der Drewsschen Betrachtungen einzugehen. Ich will
nur einige Hauptgedanken vor Ihre Seele hinstellen. Der Verfasser
der «Christus-Mythe» ) also ein moderner Philosoph, der in An-
spruch nimmt, die Wissenschaft und das Denken unserer Zeit in sich
zu tragen, nimmt die einzelnen Urkunden durch, aus denen man ge-
schichtlich feststellen will, dafi eine gewisse Personlichkeit, die den
Namen Jesus von Nazareth getragen hat, im Beginne unserer christ-
lichen Zeitrechnung gelebt hat. Und er versucht aus dem, was die
Kritik, was die Wissenschaft ihrerseits festgestellt hat, etwas zusam-
menzustellen, was sich ihm dann etwa so ergibt, dafi er sagt: Sind
etwa die einzelnen Evangelien historische Urkunden, aus denen man
beweisen kann, dafi Jesus wirklich gelebt hat? - Und er nimmt nun
alles, was moderne Theologie von dieser oder jener Seite geboren
hat, und versucht zu zeigen, dafi keines der Evangelien eine histori-
sche Urkunde sein konne, und dafi man nicht beweisen konne aus
den Evangelien, dafi Jesus gelebt hat. Und da versucht er zu zeigen,
dafi auch alle anderen Nachrichten rein geschichtlicher Art, die die
Menschen haben, unmafigeblich sind, so da$ aus ihnen nicht
geschlossen werden konne auf einen historischen Jesus.
Nun weift jeder, der die Dinge kennt, daft, rein aufterlich betrach-
tet, diese Betrachtungsweise des Professors Drews ja viel fur sich hat
und gerade wie eine Art Resultat moderner theologischer Kritik auf-
tritt. Auf die Einzelheiten will ich mich dabei nicht einlassen. Denn
gerade darauf kommt es an, dafi in unserer Zeit die Behauptung auf-
gestellt werden kann von jemandem, der die Wissenschaftlichkeit
von der philosophischen Seite in sich zu tragen meint, dafi er sagt: Es
gibt keine historischen Dokumente, aus denen man nachweisen
kann, dafi Jesus gelebt hat; die historischen Dokumente, aus denen
man das beweisen will, sind alle nicht mafigebend. - Woran sich
nun Drews halt und alle, die mit ihm gehen, das ist das, was wir von
dem Apostel Paulus haben. Es gibt sogar schon neuere Menschen,
die auch die Echtheit der gesamten Paulus-Briefe bezweifeln, aber da
der Verfasser der «Christus-Mythe» nicht so weit geht, brauchen wir
uns auch nicht dabei aufzuhalten, Uber Paulus sagt Drews nun fol-
gendes: Paulus ging nicht aus von einer etwaigen personlichen Be-
kanntschaft mit dem Jesus von Nazareth, sondern von dem, was er
als Offenbarung gehabt hat in dem Ereignis von Damaskus. - Wir
wissen, dafi das absolut wahr ist. Nun kommt aber Drews zu folgen-
der Anschauung. Was bildete sich nun Paulus fur einen Christus-Be-
griff? Er bildete sich den Begriff eines rein geistigen Christus, der in
jeder Menschenseele sozusagen wohnen kann und sich in jeder
Menschenseele nach und nach verwirklichen kann. Aber nirgends
gabe es fiir Paulus eine Notwendigkeit, diesen Christus, den er als
ein rein geistiges Wesen ansieht, gegenwartig zu haben in dem, was
ein doch nicht historisch nachweisbarer Jesus gewesen ware. Daher
konnte man sagen: Ob ein historischer Jesus gelebt hat oder nicht,
das weifi man nicht; das Christus-Bild des Paulus ist ein rein geisti-
ges, eine reine Idee, die nur etwas wiedergibt, was in jeder Menschen-
seele als ein Vervollkommnungsimpuls, als eine Art Gott im Men-
schen leben kann. - Nun weist der Verfasser der «Christus-Mythe»
weiter darauf hin, dafi gewisse Vorstellungen, ahnlich wie die des
Christus Jesus der Christen auch schon vorher vorhanden waren als
eine Art vorchristlicher Jesus, und bei verschiedenen orientalischen
Volkern weist er den Messias-Begriff nach. Dadurch sieht sich
Drews doch genotigt, sich zu fragen: Wodurch unterscheidet sich
denn eigentlich die Idee des Christus - von der sich auch in seinem
Sinne nicht leugnen lafit, daft Paulus sie gehabt hat - , wodurch un-
terscheidet sich dieses Bild des Christus in Kopf und Herz des Paulus
von dem, was man als Messias-Begriff schon vorher gehabt hat? -
Und da sagt Drews: Die Menschen vor Paulus haben ein Christus-
Bild eines Gottes, ein Messias-Bild eines Gottes gehabt, der nicht
wahrhaft Mensch geworden ist, der nicht bis zur individuellen
Menschlichkeit hinuntergestiegen ist. Sie haben sozusagen in ihren
verschiedenen Festen, Mysterien und so weiter wie einen symboli-
schen Vorgang gefeiert: Leiden, Tod und Auferstehung; aber das ha-
ben sie nicht gehabt, daft ein einzelner Mensch auf der physischen
Erde wirklich Leiden, Tod und Auferstehung durchgemacht hatte.
Das war also gleichsam eine allgemeine Idee. Und nun fragt sich der
Verfasser der «Christus-Mythe»: Worinnen besteht nun das Neue
bei Paulus? Wie hat Paulus selber die Idee des Christus fortgebildet?
Da sagt nun Drews selber: Das ist der Fortschritt, den Paulus ge-
macht hat gegeniiber dem Friiheren, daft er sich nicht bloft vorstellte
einen allgemeinen, in den hoheren Regionen schwebenden Gott,
sondern einen Gott, der individueller Mensch geworden ist. - Also
ich bitte noch einmal darauf zu achten: Im Sinne des Verfassers der
«Christus-Mythe» stellt sich Paulus einen Christus vor, der wirklich
individueller Mensch geworden ist. Aber jetzt kommt das hochst
eigentiimliche: Paulus sollte jetzt bei der Idee bloft stehengeblieben
sein, das heiftt, Paulus sollte die Idee eines Christus, der wirklich
Mensch geworden ist, gefafit haben, aber dieser Christus als Mensch
sollte fur Paulus nicht existiert haben! Paulus sollte sich gesagt
haben: Die hochste Idee ist die, daft ein Gott, ein Christus, nicht nur
in den hoheren Regionen schwebt, sondern daft er heruntergestiegen
ist auf die Erde und Mensch geworden ist; er habe aber jetzt nicht im
Sinne gehabt, daft dieser Christus wirklich auf der Erde in einem
Menschen gelebt habe - das heifit: Der Verfasser der «Christus-My-
the» schiebt dem Paulus einen Christus-Begriff zu, der in sich selber
ein Hohn ist auf jedes gesunde Denken. Paulus sollte gesagt haben:
Der Christus mufi wirklich ein individueller Mensch gewesen sein,
aber ich leugne, trotzdem ich ihn predige, daft dieser Christus histo-
risch gelebt hat!
Das ist der Kernpunkt der Sache, worum es sich handelt, und der
sich uns darstellt nicht als etwas, wozu man viel theologisch-kriti-
sche Gelehrsamkeit brauchte, um ihn zu widerlegen, sondern da
kann der Verfasser der «Christus-Mythe» durchaus als Philosoph an-
gefaftt werden. Denn dieser Christus-Begriff ist auch nur philoso-
phisch gefaftt, unmoglich. Der paulinische Christus-Begriff, wenn
man ihn nur im Sinne von Drews nimmt, kann gar nicht bestehen,
ohne daft der historische Jesus angenommen wird. So fordert also
dieses Buch von Drews selber die Existenz eines historischen Jesus.
Es kann also heute in den weitesten Kreisen ein Buch als ernste wis-
senschaftliche Arbeit angesehen werden, das in seinem Mittelpunkt
einen solchen Widerspruch hat, daft es aller inneren Logik Hohn
spricht! Es ist moglich, daft heute das menschliche Denken solche
krummen Wege nimmt! Woher kommt das? Wer sich klar werden
wollte iiber die Entwickelung der Menschheit, der sollte sich diese
Frage beantworten: Woher kommt das?
Das kommt daher, daft iiber dasjenige, was die Menschen in die-
sem oder jenem Zeitalter glauben oder denken, zuletzt nicht ihre Lo-
gik entscheidet, sondern ihre Empfindungen und Gefuhle, das heiftt,
was sie glauben und denken mochten. Und es liegt im tiefsten Zug
gerade derjenigen, welche den Christus-Begriff fur das kommende
Zeitalter vorbereiten, daft sie aus ihrem Herzen heraus alles aus-
schlieften wollen, was in aufieren Urkunden enthalten ist, dabei aber
auch wieder den Drang haben, alles durch auftere Dokumente be-
weisen zu wollen. Diese Urkunden aber verlieren, wenn man sie
rein materiell betrachtet, nach einer bestimmten Zeit ihren Wert.
Die Zeit wird kommen und gerade so, wie sie kam fur Homer und
heute schon da ist fur Shakespeare, so wird sie fur Goethe kommen,
daft man wird nachzuweisen versuchen, daft ein historischer Goethe
niemals existiert hat. Historische Urkunden, rein materiell gefaftt,
miissen ihren Wert mit der Zeit verlieren. Was ist also notwendig, da
wir heute bereits in einem Zeitalter stehen, welches in seinen besten
Vertretern so denken kann, dafi aus einem Drange des Herzens her-
aus das Ziel entsteht, den historischen Christus wegzuleugnen? Was
ist notwendig als ein neuer Einschlag des geistigen Lebens? - Die
Moglichkeit ist notwendig, auf geistige Art den historischen Jesus zu
begreifen.
Was ist ein anderer Ausdruck fur diese Tatsache?
Dafi Paulus von dem Ereignis von Damaskus ausgegangen ist, wis-
sen wir alle. Und wir wissen auch, dafi das fur ihn die grofie Offen-
barung war, wahrend alles, was er horen konnte in Jerusalem, als un-
mittelbare Nachrichten auf dem physischen Plan, nicht geeignet
war, aus einem Saulus einen Paulus zu machen. Was ihn iiberzeugte,
das war die Offenbarung von Damaskus aus den geistigen Welten
heraus. Erst dadurch ist das Christentum wirklich entstanden und
daraus hat Paulus die Kraft geschopft, den Christus zu verkiindigen.
Aber hat er daraus die blofie abstrakte Idee gewonnen, die in sich wi-
derspruchsvoll ist? Nein! Sondern aus dem, was er in den geistigen
Welten gesehen hat, hatte er die Uberzeugung gewonnen, dafi der
Christus auf der Erde gelebt, gelitten hat, gestorben und auferstan-
den ist. «Ware Christus nicht auferstanden, so ware meine Lehre
nichtig!» das hat Paulus mit Recht gesprochen. Er hat aus den geisti-
gen Welten heraus nicht blofi die Idee des Christus bekommen, son-
dern die Wirklichkeit von dem Christus, der auf Golgatha gestorben
ist. Fur ihn war damit der Beweis geliefert fiir den historischen Jesus.
Riickt nun die Zeit heran, wo durch den Materialismus des Zeital-
ter s die historischen Urkunden ihren Wert verlieren und jeder mit
leichter Miihe zeigen kann, dafi sie fiir die Kritik so briichig werden,
dafi man auf aufiere historische Art nichts beweisen kann, was ist
dann notwendig? Dann miissen die Menschen erkennen lernen, dafi
man den Christus als historischen Jesus auch ohne historische Ur-
kunden erkennen kann dadurch, dafi sich das Ereignis von Damas-
kus fur jeden Menschen durch Schulung, oder sogar in der nachsten
Zukunft fiir die ganze Menschheit, erneuern kann, so dafi es dadurch
moglich ist, eine Uberzeugung von dem historischen Jesus zu gewin-
nen. Das ist die neue Art, die in die Welt kommen mufi, diesen Weg
zu finden zu dem historischen Jesus. Denn ob Tatsachen, die gesche-
hen sind, richtig oder unrichtig sind, darauf kommt es nicht an, son-
dern darauf, dafi sie da sind. Nicht darauf kommt es an, dafi ein Buch
wie «Die Christus-Mythe» diese oder jene Irrtiimer enthalt, sondern,
dafi es geschrieben werden konnte. Das zeigt, dafi wir ganz andere
Methoden notwendig haben, damit der Christus der Menschheit er-
halten bleibt und wiedergefunden werden kann. Wer an die Mensch-
heit denkt und an ihre Bedurfnisse und an die Art, wie die
Menschenseele sich aufiert, der wird sich nicht auf den Standpunkt
stellen: Was gehen mich die Menschen alle an, die anders denken?
Ich habe meine Uberzeugung, fur mich geniigt das! - Die meisten
ahnen gar nicht, was fur ein furchtbarer Egoismus gerade darinnen
liegt.
Es war nicht irgendeine aufiere Idee, ein aufieres Ideal oder eine
personliche Liebhaberei, dafi eine Bewegung entstand, durch welche
die Menschen lernen sollten, dafi es moglich ist, einen Weg in die
geistige Welt hinauf zu finden, und dafi unter dem, was dort zu fin-
den ist, auch der Christus gefunden werden kann, sondern aus einer
Notwendigkeit heraus ist diese Bewegung entstanden. Diese Not-
wendigkeit stellte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ein, und ihr
entsprechend sollten die Moglichkeiten herunterfliefien aus den
geistigen Welten in die physische Welt, durch welche die Menschen
fahig werden, die geistige Wahrheit auf eine neue Art und Weise zu
gewinnen, weil die alte abgestorben war. Und wie haben wir im
Laufe dieses Winters gesehen, wie fruchtbar sich dieser Weg erweist!
Wir haben es immer wieder betont: Das erste, was wir zu tun ha-
ben innerhalb unserer Bewegung, ist nicht, zu fufien auf irgendeiner
Urkunde oder einem aufieren Dokument, sondern zuerst zu fragen:
Was gibt uns das hellseherische Bewufitsein, wenn wir hinaufsteigen
in die geistigen Welten? Was sagt das unabhangige geistige Bewufk-
sein, wenn durch irgendeine Katastrophe alle historischen Hinweise
auf den historischen Jesus, auf die Evangelien und auch auf die Pau-
lus-Briefe verlorengegangen waren? Was sagt der Weg, der jeden Tag
und jede Stunde angetreten werden kann, von den geistigen Welten?
Er sagt: Du findest in den geistigen Welten den Christus, und wenn
auch nichts historisch davon weifit, dafi der Christus auf der Erde
da war in der Zeit, wo unsere Zeitrechnung beginnt! Das ist die Tat-
sache, die durch eine Erneuerung des Ereignisses von Damaskus im-
mer wieder festgestellt werden kann: Es gibt einen urspriinglichen
Beweis fur die historische Personlichkeit des Jesus von Nazareth!
Und wie nicht blofi an der Schultafel fur einen Schiller gesagt wird:
Du mufit glauben, dafi die drei Winkel eines Dreiecks 180 Grad sind,
weil irgendwann im Altertum ein Mensch das einmal festgestellt
hat! — sondern wie wir ihm heute beweisen konnen, dafi die drei
Winkel eines Dreiecks 180 Grad betragen, so zeigen wir heute aus
dem geistigen Bewufitsein heraus, dafi der Christus nicht nur
immer da war, sondern dafi der historische Jesus gefunden werden
kann in den geistigen Welten, dafi er eine Realitat ist und gerade
eine Realitat fur die Zeit, die uns iiberliefert worden ist.
Dann gingen wir weiter und zeigten, wie dasjenige, was wir durch
geistige Erkenntnis ohne die Evangelien festgestellt haben, sich wie-
derfindet in den Evangelien. Und jetzt empfinden wir fur die Evan-
gelien jene hohe Achtung und Schatzung, die durch nichts iiberbo-
ten werden kann, weil wir in ihnen wiederfinden, was wir unabhan-
gig von den Evangelien in den geistigen Welten gefunden haben, und
wir wissen jetzt: Also miissen sie aus denselben Quellen iibersinn-
licher Erleuchtung hervorgegangen sein, aus denen wir heute
schopfen, miissen Urkunden aus den geistigen Welten sein.
Dafi eine solche Betrachtung iiberhaupt moglich ist, dafi also
geistiges Leben einriickt in menschliche Wissenschaftlichkeit, das ist
der Sinn dessen, was wir theosophische Bewegung nennen. Und da-
mit das, was geschehen mufite, geschehen konnte, dazu mufite die
Anregung gegeben werden durch die Theosophische Gesellschaft.
Das ist die eine Seite der Sache. Die andere Seite ist die, dafi diese An-
regung gerade hineinfallen mufite in eine Zeit, die dafiir am wenig-
sten reif war. Das zeigt sich gerade daran, dafi heute, nachdem die
theosophische Bewegung bereits dreifiig Jahre in der Welt ist, noch
immer das Lied fortdauert von dem «unhistorischen Jesus» und so
weiter. Wieviel weifi man denn heute aufierhalb unserer Bewegung,
dafi es moglich ist, den historischen Jesus ganz anders zu finden, als
durch die aufteren Urkunden? Man setzt fort, was man im 19. Jahr-
hundert getan hat: die Autoritat der religiosen Urkunden zu unter-
graben. So war die Notwendigkeit, daft diese neue Moglichkeit der
Menschheit gegeben werden muftte, die denkbar groftte, und auf der
anderen Seite waren die Vorbereitungen der Menschen, um diese
Offenbarungen entgegenzunehmen, die denkbar geringsten. Oder
glauben Sie vielleicht, daft die Menschen, daft die Philosophen von
heute dafiir besonders reif gewesen waren? Wie weit die Philoso-
phen am Anfange des 20. Jahrhunderts sind, sehen Sie an der Idee,
welche sie iiber den Christus des Paulus fassen. Wer das wissen-
schaftliche Leben kennt, der weift, daft dieses wissenschaftliche
Leben zwar eine hohe und letzte Konsequenz dessen ist, was sich
seit Jahrhunderten als Materialismus vorbereitet hat, daft es zwar
behauptet, iiber den Materialismus hinauszuwollen, daft aber dasje-
nige, was sich als Denkweise im Materialismus zeigt, nichts wei-
ter ist als etwas Absterbendes. Wissenschaft, wie sie heute exi-
stiert, ist zwar eine reife Frucht, aber eine solche Frucht, die das
Schicksal jeder reifen Frucht hat: daft sie anfangt abzusterben. An
dieser Wissenschaft kann niemand finden, der sie versteht, daft sie
einen neuen Trieb hervorbringen konnte zur Erneuerung ihrer
Denkungs- und Beweisart.
Wenn wir das bedenken, dann werden wir jetzt, ganz abgesehen
von allem iibrigen, begreifen das Gewicht der Anregung, das gekom-
men ist von H. P. Blavatsky, ganz gleichgiiltig, wie wir zu denken
haben uber die Einzelheiten ihres Lebens und ihrer Fahigkeiten. Sie
war das Instrument, um die Anregung zu geben, und sie erwies sich
immerhin als ein geeignetes Instrument dafiir. Und wir sind als Mit-
glieder der theosophischen Bewegung, wenn wir an einem solchen
Tage uns mit einer solchen Festlichkeit befassen, in einer ganz be-
sonderen Lage. Wir feiern ein ganz personliches Fest, das auf ein Per-
sonliches hinweist. Nun ist der Autoritatsglaube schon in der aufte-
ren Welt etwas sehr Gefahrliches; er ist aber deshalb dort nicht so ge-
fahrlich, weil Eifersucht, Neid und so weiter eine so grofte Rolle
spielen, daft, selbst wenn Verehrung von einzelnen Personlichkeiten
sich aufterlich geltend macht in ziemlich starkem Weihrauchstreuen,
doch Egoismus und Neid den Leuten im Nacken sitzen. Aber in der
theosophischen Bewegung ist die Gefahr des Schadens alles Person-
lichkeitskultus und alles Autoritatsglaubens eine aufterordentlich
grofte. Daher sind wir in einer ganz besonderen Lage, wenn wir ein
Fest feiern, das einer Personlichkeit geweiht ist. Und wir sind nicht
nur aus den Gewohnheiten der Zeit heraus, sondern aus der Sache
heraus in einer besonderen Schwierigkeit, weil die Offenbarungen
aus den hoheren Welten immer den Umweg iiber die Personlichkeit
nehmen miissen. Personlichkeiten miissen die Trager sein fur die Of-
fenbarungen, und dennoch sollen wir uns hiiten, die Personlichkei-
ten mit den Offenbarungen zu vermischen. Wir miissen die Offen-
barungen empfangen durch Vermittelungen der Personlichkeiten.
Wie nahe liegt die Frage, die immer wieder auftritt: Ist die Person-
lichkeit glaubhaft? Was hat sie alles getan an diesem oder jenem
Tage, was mit unseren Begriffen gar nicht stimmt! Kann man also
glauben an diese Sache?
Das entspricht einem gewissen Hang unserer Zeit, den man cha-
rakterisieren konnte als einen gewissen Mangel in der Hingabe an
die Wahrheit. Wie oft kann man es heute erleben, daiS sich die Leute
einverstanden erklaren mit dem Wirken einer Personlichkeit viel-
leicht von Jahrzehnten: das gefallt ihnen ganz gut, da sind sie zu be-
quem, um irgend etwas zu priifen. Wenn sich dann aber vielleicht
nach Jahrzehnten herausstellt, dafi das Privatleben dieser Personlich-
keit dieses oder jenes aufweist, wo man vielleicht einhaken kann,
dann fallt diese Personlichkeit dahin. Ob das nun berechtigt ist oder
nicht, darauf kommt es gar nicht an, sondern darauf, dafi man ein
Gefiihl dafiir bekommen soil, dafi die Personlichkeit zwar der Weg
ist, durch welchen geistiges Leben zu uns kommt, dafi wir aber die
Verpflichtung haben, selbst zu priifen, und zwar an der Wahrheit
die Personlichkeit zu priifen, und nicht die Wahrheit an der Person-
lichkeit! Gerade den Personlichkeiten gegeniiber in unserer theoso-
phischen Bewegung miissen wir uns immer so verhalten. Und wir
verehren sie im Grunde genommen am besten, wenn wir sie nicht
mit Autoritatsglauben behangen, wie man das so gern tun mdchte,
denn wir wissen, dafi die Wirksamkeit einer verstorbenen Person-
lichkeit nach dem Tode nur verlegt ist in die geistige Welt. Es ist be-
rechtigt zu sagen: Die Wirksamkeit von H. P. Blavatsky dauert fort,
und wir konnen innerhalb dessen, wozu sie die Anregung gegeben
hat, diese Wirksamkeit entweder fordern oder beeintrachtigen. Wir
beeintrachtigen diese Wirksamkeit am allermeisten dann, wenn wir
der Blavatsky blind glauben, wenn wir schworen auf das, was sie ge-
dacht hat, als sie auf dem physischen Plan wandelte, wenn wir glau-
ben wollten, wie sie vielleicht gerade geglaubt hat, und ihr mit einer
blinden Autoritat entgegenkommen. Und wir fordern und verehren
sie am allermeisten, wenn wir uns bewufit sind: Sie hat die Anregung
gegeben zu einer tiefsten, in der Notwendigkeit der Menschheitsent-
wickelung begriindeten Bewegung. Wir schreiben ihr dieses Ver-
dienst zu und sehen ein, dafi diese Bewegung kommen mufke. Aber
es sind Jahre seitdem verflossen, und wir wollen uns dieser Anre-
gung wurdig erweisen, indem wir sagen: Was angeregt worden ist,
das mufi weitergebildet werden. - Wir sehen ein: Durch diesen
Kopf mufke die Anregung gehen. Wir stecken unsere Nase nicht in
die Privatverhaltnisse von H. P. Blavatsky, insbesondere nicht am
heutigen Tage. Wir wissen, was die Anregung bedeutet, aber wir
wissen auch, dafi die Anregung dasjenige, was geschehen soil, nur in
der unvollkommensten Weise darstellen kann. Und wenn wir das
betrachten, was im letzten Winter vor unsere Seek getreten ist, so
miissen wir sagen: Was H. P. Blavatsky angeregt hat, ist zwar etwas
tief Einschneidendes; aber was hat alles Frau Blavatsky durch ihre er-
ste Tat nicht tun konnen? - Was jetzt erst in dieser Stunde bewiesen
worden ist: Die Notwendigkeit der theosophischen Bewegung fiir
das Christus-Erlebnis, das ist etwas, was der Blavatsky ganz ver-
schlossen war. Ihr oblag es, hinzuweisen auf den Wahrheitskern in
den Religionen der arischen Volker; vollstandig verschlossen war
es ihr, die alt- und neutestamentlichen Offenbarungen zu verste-
hen. Wir verehren das, was die Personlichkeit positiv geleistet hat,
und blicken nicht auf das, was sie nicht konnte und was ihr ver-
schlossen war und was wir eben hinzufugen miissen. Wer sich durch
H. P. Blavatsky anregen lafk und weitergehen will, als sie selbst
gegangen ist, der wird sich sagen: Wenn die Anregung, die H. P.
Blavatsky gegeben hat, in der theosophischen Bewegung weiter-
gefiihrt wird, dann wird man dazu kommen, das Christus-Ereignis
zu begreifen.
Das aber war gerade der Mangel der ersten theosophischen Bewe-
gung, dafi das alttestamentliche und neutestamentliche religiose und
geistige Leben nicht begriffen werden konnte. Daher ist im Grunde
alles schief, was in dieser ersten Anregung dariiber enthalten ist.
Und die theosophische Bewegung hat die Aufgabe, das wieder gut zu
machen und dasjenige, was in den ersten Anregungen uberhaupt
nicht enthalten war, hinzuzufiigen. Wenn wir diese Tatsache in uns
heute fiihlen, ist sie zugleich eine Anforderung an unser theosophi-
sches Gewissen.
So sehen wir gerade in H. P. Blavatsky die Bringerin einer Art von
Morgenrote eines neuen Lichtes. Aber was wiirde dieses Licht niit-
zen, wenn es nicht das Allerwichtigste, was die Menschheit gehabt
hat, beleuchten wollte? Eine Theosophie, welche nicht die Mittel
hat, das Christentum zu begreifen, ist fiir die gegenwartige Kultur
absolut wertlos. Wenn sie aber doch das Instrument ist, urn das
Christentum zu begreifen, dann haben wir das Instrument in der
richtigen Weise zu benutzen. Was machen wir denn, wenn wir dies
nicht tun, was eben charakterisiert worden ist, wenn wir nicht die
Anregung von H. P. Blavatsky benutzen, um das Christentum zu
begreifen? Dann hemmen wir die Wirksamkeit des Geistes der Bla-
vatsky in unserer Zeit! Alles ist doch in Entwickelung, also auch der
Geist der Blavatsky. Und dieser Geist wirkt heute in der geistigen
Welt, dafi die theosophische Bewegung vorschreitet. Wenn wir uns
aber vor H. P. Blavatsky hinstellen mit den Buchern, die sie ge-
schrieben hat, und sagen: Mit deinen eigenen Werken richten wir dir
einen Hiigel auf! Du mufit stehenbleiben bei dem, was du getan hast
im physischen Leben! — wer ist es denn dann, der den Geist der Bla-
vatsky zu einem erdgebundenen macht, der ihn dazu verurteilt, dafi
er nicht hiniibergehen kann iiber das, was er auf der Erde gestiftet
hat? Wir selber waren das! Dadurch aber ehren und anerkennen wir
H. P. Blavatsky, wenn wir iiber sie hinausgehen, wie sie iiber das
hinausgegangen ist, was vor ihr war, so lange uns die Gnade der
Weltenentwickelung geistige Offenbarungen aus der geistigen Welt
geben kann.
Das wollen wir heme als eine Gewissensfrage vor unsere Seelen
hintreten lassen, und das ist schlieftlich am allermeisten auch im Sin-
ne desjenigen Zeitgenossen, der jetzt auch schon in die geistige Welt
eingegangen ist, H. S. Olcotts, des ersten Prasidenten der Theosophi-
schen Gesellschaft. Das wollen wir uns heute ganz besonders in die
Seele schreiben! Denn gerade durch die Nichterkenntnis des lebendi-
gen theosophischen Lebens sind auch alle Schattenseiten der theo
sophischen Bewegung entstanden: Wiirde die theosophische Bewe-
gung ihre ursprunglichen grofien Impulse mit heiligem Gewissen
ungeschwacht fortfuhren, so wurde sie durch ihre Kraft alles leicht
aus dem Felde schlagen konnen, was an verderblichen Einschlagen
im Laufe der Zeit bereits aufgetreten ist und was ganz gewift noch
auftreten wird. Das aber mussen wir auch ernstlich tun: die Impulse
lebendig fortbilden. Heute aber sehen wir an vielen Orten, wo
Theosophen zu wirken meinen, daft sie sich ganz besonders behag-
lich fiihlen, wenn sie sagen: Wir tun jetzt etwas, was uns die auftere
Wissenschaft auch bestatigt! - Wie lieb ist es manchen fuhrenden
Theosophen, wenn sie hinweisen konnen, wie die Religionsforscher
auch das bestatigen, was aus der geistigen Welt herausgekommen ist,
und gar nicht beachten sie, daft gerade die ungeistige Art der Verglei-
chung der religiosen Urkunden uberwunden werden sollte. Da be-
riihrt sich zum Beispiel Theosophie sogar hart mit dem, was abster-
bend war und zur Leugnung des historischen Jesus gefuhrt hat, und
da ist sogar eine gewisse Verwandtschaft mit diesen Dingen vorhan-
den. Ursprtinglich hat Theosophie den historischen Jesus auch nur
gelten lassen wie die anderen Religionsstifter. Es ist der Blavatsky
nicht eingefallen, den historischen Jesus zu leugnen. Sie hat ihn zwar
in der Zeit um hundert Jahre hinausgeschoben, was allerdings ein
Irrtum ist, sie hat ihn also nicht geleugnet, aber sie hat auch das We-
sen des Christus Jesus nicht erkannt. Sie hat zwar die Anregung ge-
geben, daft in der von ihr eingeleiteten Bewegung das Wesen des
Christus einmal erkannt werden kann, hat es aber selbst nicht tun
konnen. Da beriihrt sich der erste Zustand der theosophischen Be-
wegung hochst merkwiirdig mit dem, was die Leugner des histori-
schen Jesus heute tun.
So wird heute zum Beispiel von Professor Drews darauf hingewie-
sen, dafi man die Vorgange, welche dem Ereignis von Golgatha vor-
angehen, auch in der alten Gotter-Erklarung findet, so zum Beispiel
in den Kulten des Adonis oder Tammuz. Da zeigt sich ein leidender
Gottesheld, ein sterbender Gottesheld, ein auferstehender Gottes-
held und so weiter. Es wird immer verglichen, was da und dort reli-
giose Uberlieferung ist und dann wird geschlossen: Es wird euch er-
zahlt von einem leidenden, sterbenden und auferstehenden Jesus von
Nazareth, der der Christus war, aber ihr seht, dafi das die anderen
Volker auch feierten an Adonis, an Tammuz und so weiter. Uberall
wird hingewiesen auf die Ahnlichkeit dieser oder jener alten Gotter-
figur mit dem, was in den Vorgangen von Palastina beschrieben
wird.
Das ist im weiten Umfange im Grunde auch in der theosophi-
schen Bewegung getrieben worden. Man sieht gar nicht heute bei
dieser Religionsvergleichung, dafi damit gar nichts gesagt ist, wenn
man vergleicht Adonis oder Tammuz mit den Ereignissen von Pala-
stina. Ich will Ihnen nur durch einen Vergleich einmal vor die Seele
fuhren, wo der Irrtum einer solchen Religionsvergleichung liegt.
Aufierlich kann sie absolut richtig sein, aber dennoch ist sie einem
gewaltigen Irrtum unterworfen. Nehmen Sie an, es gibt eine Uni-
form irgendeines Beamten, der, sagen wir, im Jahre 1910 lebte. Die
Uniform, welche dieser Beamte im Jahre 1910 tragt, stellt zu glei-
cher Zeit die auftere Art seiner Tatigkeit dar, seines Amtes. Und
nehmen wir weiter an, im Jahre 1930 steckte ein anderer Mensch,
der ganz anders ist, in derselben Uniform. Aber nicht auf die Uni-
form, sondern auf die Individuality kommt es dabei an, wie ein
Mensch seine Arbeit verrichtet. Jetzt aber denken wir uns, im Jahre
2090 kame ein Geschichtsforscher, der etwa sagte: Es wird berich-
tet, dafi es im Jahre 1910 einen Menschen gab, der diesen Rock, die-
ses Beinkleid und diese Weste angehabt hat. Im Jahre 1930 aber sehe
ich auch den gleichen Rock, dieselbe Weste und dieselben Beinklei-
der, also sehen wir, dafi sich Rock, Beinkleid und Weste fortge-
pflanzt haben, und daft wir beide Male eigentlich dasselbe Wesen vor
uns haben!
Ein solcher Schluft ist naturlich toricht. Aber es ist nicht geschei-
ter, wenn man sagt: Wir nehmen die vorderasiatischen Religionen
und sehen da, wie in Adonis oder Tammuz Leiden, Sterben und
Auferstehung dargestellt wird; dasselbe finden wir beim Christus
auch! - Darauf kommt es aber nicht an, daft Leiden, Sterben und
Auferstehen dargestellt wird, sondern darauf, wer auferstanden ist!
Leiden, Tod und Auferstehung ist die Uniform in der weltgeschicht-
lichen Entwickelung, und wir diirfen nicht auf die Uniform, die uns
in den Legenden entgegentritt, hinweisen, sondern auf die Individua-
litaten, welche darinnenstecken. Gewift haben sich die Individualita-
ten, damit die Menschen sie begreifen, in derselben Weise gezeigt,
haben sozusagen «Christus-Taten» vollbracht, welche zeigen sollten:
Er kann auch die Taten verrichten, die einmal ein Tammuz zum Bei-
spiel hat. - Aber es war immer eine andere Wesenheit hinter diesen
Taten. Daher ist alle Religionsvergleichung, daft zum Beispiel die
Siegfried-Gestalt ubereinstimmt mit der Baldur-Gestalt, die Baldur-
Gestalt mit der Tammuz-Gestalt und so weiter, nur ein Zeichen da-
fur, daft gewisse Formen der Legenden und Mythen bei diesen und
jenen Volkern vorkommen. Das ist nicht mehr wert, als wenn man,
um die Menschen kennenzulernen, zeigen wurde, wie sich eine be-
stimmte Uniformgattung bei einem bestimmten Amte wiederfindet.
Das ist der fundamentale Irrtum, der uberall grassiert und der zum
Beispiel auch in der theosophischen Bewegung grassieren kann, und
der nichts anderes ist, als eine Konsequenz materialistischer Denk-
gewohnheiten.
Nur dann wird das Testament der Blavatsky erfullt werden, wenn
die theosophische Bewegung fahig ist, das Leben des Geistes in sich
zu pflegen und zu bewahren, wenn auf den Geist gesehen wird, der
sich nicht durch Biicher, die jemand geschrieben hat, sondern durch
das lebendige Leben immerfort zeigt. Geist soil bei uns gepflegt wer-
den. Nicht Biicher wollen wir bloft studieren, die vor Jahrhunderten
geschrieben worden sind, sondern lebendig fortentwickeln, was uns
als Geist gegeben ist. Und wir wollen etwas sein wie eine Vereini-
gung von Menschen, die nicht blofi glauben an Biicher und Men-
schen, sondern an den lebendigen Geist, und die nicht blofi davon
sprechen, dafi H. P. Blavatsky abgegangen ist vom physischen Plan
und nach ihrem Tode weiter lebt, sondern die so weit lebendig glau-
ben an das, was durch die Theosophie offenbart worden ist, dafi sie
selbst durch ihre eigene Wesenheit auf dem physischen Plan kein
Hemmnis sein konnen fur das iibersinnliche Fortwirken des Geistes
der Blavatsky. Nur dann werden wir der theosopMsehen Bewegung
etwas sein, wenn wir so denken iiber H. P. Blavatsky, und nur dann
wird H. P. Blavatsky etwas sein konnen fur die theosophische Bewe-
gung, wenn solche Menschen auf Erden existieren, die so denken
konnen. Aber dazu ist notwendig, dafi weiter geistig geforscht wird,
und dafi man vor alien Dingen glaubt an das, was besonders in dem
letzten offentlichen Vortrag erwahnt worden ist: dafi die Mensch-
heit im Fortschreiten begriffen ist, und daft wirklich so etwas in die
Geschichte eingetreten ist zur Zeit des Christus Jesus wie das Gewis-
sen, und dafi solche Dinge entstehen und eine Bedeutung haben fur
die ganze Entwickelung. Das Gewissen ist etwas, was zu einem be-
stimmten Zeitpunkt eingetreten ist. Das Gewissen war friiher etwas
anderes, und es wird wieder etwas anderes werden, nachdem die
Menschenseelen im Lichte des Gewissens sich eine Weile entwickelt
haben werden. Wie das Gewissen sich verandern wird in der Zu-
kunft, darauf haben wir auch schon hingewiesen.
Parallel gehen wird mit dem Auftreten des Ereignisses von Damas-
kus bei einer grofien Anzahl Menschen im Laufe des 20. Jahrhun-
derts so etwas, daft die Menschen lernen werden, wenn sie irgendei-
ne Tat im Leben getan haben, aufzuschauen von dieser Tat. Sie wer-
den bedachtiger werden, werden ein innerliches Bild haben von der
Tat - zunachst wenige, dann immer mehr und mehr im Laufe der
nachsten zwei bis drei Jahrtausende. Nachdem die Menschen etwas
getan haben werden, wird das Bild da sein. Sie werden zunachst
nicht wissen, was das ist. Die aber Geisteswissenschaft kennenge-
lernt haben, werden sich sagen: Hier habe ich ein Bild! Das ist kein
Traum, gar kein Traum, es ist ein Bild dessen, was mir die karmische
Erfiillung dieser Tat zeigt, die ich eben getan habe. Das wird einmal
geschehen als Erfiillung, als karmischer Ausgleich dessen, was ich
eben getan habe! - Das wird im 20. Jahrhundert beginnen. Da wird
sich fur den Menschen hinzuentwickeln die Fahigkeit, dafi er ein
Bild hat von einer ganz fernen, noch nicht geschehenen Tat. Das
wird sich zeigen als ein inneres Gegenbild seiner Tat, als die kar-
mische Erfiillung, die einmal eintreten wird. Der Mensch wird
sich dann sagen: Jetzt habe ich dies getan. Nun wird mir gezeigt,
was ich zum Ausgleich tun mufi, und was mich immer zuriickhal-
ten wiirde in der Vervollkommnung, wenn ich den Ausgleich
nicht vollbringen wiirde. — Da wird Karma nicht eine blofie
Theorie mehr sein, sondern es wird dieses charakterisierte innere
Bild erfahren werden.
Solche Fahigkeiten treten nach und nach immer mehr auf. Neue
Fahigkeiten entwickeln sich, aber die alten Fahigkeiten sind die Kei-
me fiir die neuen. Wovon werden es denn die Menschen haben, dafi
sich das karmische Bild zeigen wird? Davon werden sie es haben, dafi
die Seele eine gewisse Zeit im Lichte des Gewissens gestanden hat!
Das ist ja das Wichtige fiir die Seele: nicht dafi dieses oder jenes aufie-
re Physische erlebt wird, sondern dafi die Seele dadurch vollkomme-
ner wird. Durch das Gewissen bereitet sich die Seele zu demjenigen
vor, was jetzt charakterisiert worden ist. Und je mehr die Menschen
gegangen sein werden durch Inkarnationen, wo sie besonders das
Gewissen ausgebildet haben, je mehr sie dieses Gewissen in sich pfle-
gen werden, desto mehr werden sie tun, um jene hohere Fahigkeit
zu haben, die ihnen im geistigen Schauen selber jene Gottesstimme
wieder vorfuhrt, welche die Menschen friiher einmal in anderer
Weise gehabt haben. Aschylos stellte noch einen solchen Orest dar,
der vor sich hatte, was seine schlimmen Taten bewirkten. Orest
mufi noch ansehen, wie die Wirkung seiner Taten in die Aufienwelt
hinausgestellt ist. Die neue Fahigkeit, welche sich fur die Seele ent-
wickelt, ist eine solche, dafi der Mensch in Bildern sehen wird die
Wirkung seiner Taten fur die Zukunft. Das ist das Neue. Die Ent-
wickelung verlauft immer zyklisch, immer kreisformig, und was die
Menschheit an dem alten Schauen besessen hat, das stellt sich in er-
neuerter Weise auch wieder ein.
So bereiten wir uns durch die Erkenntnisse der geistigen Welt vor,
dafi wir wirklich in einer richtigen Weise in der nachsten Inkarna-
tion aufwachen, und dadurch arbeiten wir auch in der Weise, dafi
auch fur die Menschen, die unsere Nachkommen sind, im entspre-
chenden Mafie gesorgt ist. Dadurch ist die Geistesforschung in ih-
rem inneren Grunde eine unegoistische Richtung, weil sie nicht
fragt, was dem einzelnen frommt, sondern wodurch der Fortschritt
der ganzen Menschheit bewirkt wird.
Wir haben nun zweimal gefragt: Was ist das Gewissen? Jetzt haben
wir auch gefragt: Was wird aus dem Gewissen, das sich heute entwik-
kelt? Wie stellt sich das Gewissen dar, wenn wir es betrachten als
einen Samen in der Zeit, welche die Menschheit jetzt durchmacht?
Was wird aus dem, was das Gewissen als Keim bewirkt? - Diese
charakterisierten hoheren Fahigkeiten werden daraus! Das ist das
Wichtige, dafi wir an die Entwickelung der Seele von Inkarnation zu
Inkarnation, von Zeitalter zu Zeitalter glauben. Das lernen wir, in-
dem wir das wirkliche Christentum verstehen lernen. Und da haben
wir von Paulus noch sehr viel zu lernen. Sehen Sie sich bei alien
orientalischen Religionen urn, auch beim Buddhismus, Sie finden die
Lehre: Die auftere Welt ist Maja. - Gewift ist sie das, aber das wird
im Orient als eine absolute Wahrheit hingestellt. Paulus weifi diese
Wahrheit auch, sie ist wahrhaftig bei ihm geniigend betont. Aber et-
was anderes ist bei Paulus noch betont, namlich dies: Wohl sieht der
Mensch nicht Wahrheit, wenn er hinausschaut mit seinen Augen, er
sieht nicht die Wirklichkeit, wenn er in das schaut, was draufien ist.
Warum nicht? Weil er sich selbst bei seinem Herunterstieg in die
Materie die aufiere Wirklichkeit zur Illusion umgegossen hat! Der
Mensch ist es selbst, der die aufiere Welt durch seine Tat zur Illusion
gemacht hat! Nennen Sie es nun mit der Bibel «Siindenfall» oder
sonstwie, was bewirkt, dafi ihm die aufiere Welt jetzt als eine Illu-
sion erscheint. Den «G6ttern» gibt die orientalische Religionslehre
die Schuld, dafi dem Menschen die Welt als Maja erscheint. Schlag*
an deine eigene Brust! - so sagt Paulus - , du bist heruntergestiegen
und hast deine eigene Anschauung so getriibt, dafi Farbe und Ton
nicht wirklich als ein Geistiges erscheinen. Du glaubst, dafi Farbe
und Ton etwas ist, was materiell fur sich da ist? Maja ist es! Du hast
es selbst zur Maja gemacht. Du Mensch, du mufit dich selbst davon
wieder erlosen. Du mufit dir das, was du verwirkt hast, wieder aneig-
nen! Du bist heruntergestiegen in die Materie, und jetzt mufit du
dich selbst wieder davon erlosen, davon befreien, aber nicht in der
Weise, wie es Buddha sagt: Bezwinge den Drang nach Dasein! Nein!
du mufit das Dasein der Erde in ihrer Wirklichkeit sehen. Was du
selber zur Maja gemacht hast, das raufit du wieder richtig machen in
dir. Und das kannst du, indem du die Christus-Kraft in dich auf-
nimmst, die dir die aufiere Welt in ihrer Wirklichkeit zeigt!
Darin liegt ein grofter Impuls westlandischen Lebens, ein neuer
Zug, und der ist noch lange nicht auf den einzelnen Gebieten durch-
gefuhrt. Was weifi heute die Welt davon, dafi auf einem Gebiete so-
gar versucht worden ist, sozusagen im Sinne des Paulus, eine Er-
kenntnistheorie zu schaffen? Eine solche Erkenntnistheorie konnte
nicht im kantischen Sinne sagen: Das Ding an sich ist etwas Unbe-
greifliches - , sondern sie konnte nur sagen: Es liegt an dir, Mensch,
du bewirkst durch das, was du jetzt bist, eine unrichtige Wirklich-
keit. Du mufit selbst einen inneren Prozefi durchmachen. Dann ver-
wandelt sich dir Maja in Wahrheit, in die geistige Wirklichkeit! - In
diesem Sinne die Erkenntnistheorie auf paulinische Basis zu stellen,
war die Aufgabe meiner beiden Schriften «Wahrheit und Wissen-
schaft» und «Die Philosophic der Freiheit». Diese beiden Bucher
stellen sich hinein in das, was die grofie Errungenschaft der paulini-
schen Auffassung vom Menschen ist in der westlandischen Welt. Da-
her sind diese Bucher auch so wenig verstanden worden, hochstens
in einigen Kreisen, weil sie voraussetzen gerade die ganzen Impulse,
welche in der Bewegung fur Geisteswissenschaft zum Ausdruck
gekommen sind. Im Kleinsten mufi sich das Grofite zeigen!
Durch solche Betrachtungen, die uns von unserer engen Mensch-
lichkeit emporheben und uns zeigen, wie wir in unserer kleinen all-
taglichen Arbeit ankmipfen konnen an das, was uns von Stufe zu
Stufe, von Leben zu Leben immer mehr hineinfuhrt in das geistige
Dasein, durch solche Betrachtungen werden wir zu rechten Theoso-
phen. Und wir diirfen uns einer solchen Betrachtung gerade hinge-
ben an einem Tage, der gewidmet ist einer Personlichkeit, die eine
Anregung gegeben hat zu einer Bewegung, die immer weiter und
weiter leben wird, die nicht fur einen Menschen eine graue Theorie
bleiben soli, sondern die Lebenssaft in sich haben soli, damit der
Baum immer von neuem griinen wird, den wir den Baum der theo-
sophischen Weltanschauung nennen.
Aus diesem Geiste heraus wollen wir es versuchen, uns geeignet zu
machen, einen Boden zu bereiten in unserer Bewegung, der die Im-
pulse der Blavatsky nicht hemmt und zuriickhalt, sondern zu immer
weiterer Entfaltung fordert.
HINWEISE
2.ur Zusammenstellung der Vortrdge: Die hier vorliegenden sieben Vortrage sind ein kleiner
Ausschnitt aus den vielen Vortragen, die Rudolf Steiner im Berliner Zweig durch viele Jahre
hindurch gehalten hat, wenn er nicht auf Reisen gewesen ist. Er sprach wochentlich minde-
stens einmal in diesem Arbeitskreis. Da diese sieben Vortrage noch zu Rudolf Steiners Leb-
zeiten im Jahre 1921 als Manuskriptdruck (Zyklus 17) erschienen sind, ist diese Zusammen-
stellung auch innerhalb der Gesamtausgabe beibehalten worden, obwohl chronologisch noch
andere Vortrage dazwischen gehalten worden sind. Diese finden sich in dem Band «Die tiefe-
ren Geheimnisse des Menschheitswerdens im Lichte der Evangelien», GA Bibl.-Nr. 117.
Textgrundlagen: Die Vortrage wurden von dem Berliner Mitglied Walter Vegelahn mitsteno-
graphiert. Dem Druck liegt die Ubertragung seines Stenogramms in Klartext zugrunde. Ein
Originalstenogramm liegt jedoch nicht vor. Textkorrekturen gegenuber den friiheren Auf-
lagen gehen auf teilweise vorliegende andere Nachschriften zuriick.
Die in den Nachschriften stehenden Worte «Theosophie» und «theosophisch» wurden auf
Grund einer Anweisung Rudolf Steiners durch die Ausdrucke «Anthroposophie» oder «Gei-
steswissenschaft» ersetzt. Die Bezeichnung «Theosophie» gebrauchte Rudolf Steiner, weil er
zur Zeit dieser Vortrage mit seiner anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft noch
innerhalb der Theosophischen Gesellschaft lehrte, von der er sich einige Jahre spater jedoch
getrennt hat.
Der Titel des Bandes diirfte noch auf Rudolf Steiner zuriickgehen, wenngleich die Nach-
schriften nicht von ihm selbst durchgesehen worden sind.
Die Herausgabe der 3. Auflage besorgten Ruth Moering und Hella Wiesberger.
Fiir die vorliegende 4. Auflage wurden die Inhaltsangaben und Hinweise erganzt.
Werke Rudolf Steiners innerhalb der Gesamtausgabe (GA) werden in den Hinweisen mit der
Bibliographie-Nummer angegeben. Siehe auch die Ubersicht am Schlufi des Bandes.
Zu Seite
11 Heute, gelegentlich der Generahersammltmg: Am Tag zuvor, 24. Oktober 1909, hatte
die 8. General versammlung der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft
stattgefunden, zu der immer viele Mitglieder von viberall her nach Berlin kamen; daher
auch das Besondere des Vortragsthemas.
in den Vortragen uber Anthroposophie: In «Anthroposophie, Psychosophie, Pneumato-
sophie», GA Bibl.-Nr. 115.
13 Dr. Carl Unger, 1878 - 1929, Ingenieur. Einer der bedeutendsten Vertreter der Anthro-
posophie Rudolf Steiners in Deutschland. Unmittelbar vor Beginn seines offentlichen
Vortrages in Niirnberg «Was ist Anthroposophie?* wurde er von einem geistig
Umnachteten erschossen. Siehe seine «Gesammelten Schriften» I -III, Stuttgart 1964.
13 was wit «reine Gedanken» nennen: Von Rudolf Steiner methodisch entwickelt in seiner
«Philosophie der Freiheit» (1894), GA Bibl.-Nr. 4.
14, 125, 127 Aschylos, urn 525-456 v. Chr.
Euripides, 487-407 v. Chr.
25 in dem zweiten Vortrag uber «Antbroposophie»: Vgl. zweiten Hinweis zu Seite 11.
28 Orpheus: Vgl. auch Vortrag Berlin, 16. Januar 1911 in «Exkursein das Gebiet des Mar-
kus-Evangeliums», GA Bibl.-Nr. 124.
3 1 jene Wesenkeit, die n&ir als Jesus ivon Nazareth genauer geschildert haben: Rudolf Steiner
bezieht sich bier offensichtlich auf die beiden Berliner Vortrage vom 11. und 18.
Oktober 1909 in «Die tieferen Geheimnisse des Menschheitswerdens im Lichte der
Evangelien», GA Bibl.-Nr. 117.
41 was in den offentlichen Vortrdgen gesagt worden ist, zum Beispiel uber den Zom: Berlin,
21. Oktober 1909 in «Metamorphosen des Seelenlebens», GA Bibl.-Nr. 59.
43 Wdhrend meiner langjdhrigen Erziehertatigkeit: Siehe Rudolf Steiner «Mean Lebens-
gang» (1923 -25), GA Bibl.-Nr. 28.
44 was uber die Mission der Andacht gesagt worden ist: Vortrag Berlin, 28. Oktober 1909 in
«Metamorphosen des Seelenlebens», GA Bibl.-Nr. 59.
46 Goethe-Zitat: Motto zum 2. Teil von «Dichtung und Wahrheit».
57 bei einer unserer letzten Betrachtungen: Berlin, 2. November 1909 in «Die tieferen
Geheimnisset&es'Menseriheitswerdens im Lichte der 'Evangelien», GA Bibl.-Nr. 117.
70 Verkiindigung der Zehn Gebote: Moses, 2. Buch, 20, 1 - 17.
71 Vortrag uber die Zehn Gebote des Moses, am 16. November 1908: In «Geisteswissen-
schaftliche Menschenkunde», GA Bibl.-Nr. 107.
76 Tacitus von den Christen: Annalen XV, 44.
82 althebrdische Geheinilehre (Namen Salomos): Siehe Schir I, 1 (ed. Wilna 1887).
96 Schabbathai Zewi, 1626-1675. Siehe J. Kastein, «Sabbatai Zewi, der Messias von
Ismir», 1930.
97 Dann wird es sich zeigen, ob die Theosophen die Theosophie richtig verstanden haben wer-
den: Diese Bemerkung bezidht sich auf den damals von Annie Besant und C.W. Lead-
beater gerade hegriindeten Orden «Stern des Ostens», der dann .den laderknaben
Krishnamurti zum Trager des wiederverkorperten Christus proklamierte, was von
Rudolf Steiner abgelehnt werden mufite. Es fiihrte dies im weiteren zu seiner Tren-
nung von der Theosophischen Gesellschaft.
100 auf dieses Ghristus-Ereignis werden . . . andere folgen: Naheres dariiber findet sich in den
Vortragen des Bandes «Das esoterische Christentum und die geistige Fiihrung der
Menschheit», GA Bibl.-Nr. 131.
101 Vortrdge uber das Johannes-Evangelium, wie sie zuletzt in Stockholm gehalten worden
sind: Von diesen im Januar 1910 gehaltenen elf Vortragen existieren nur fur den Druck
unzureichende Notizen.
114 Im Jahre 1906 wdhrend des Kongresses in Paris: In dem Band «Kosmogonie», GA BibL-
.Nr. 94.
117 der Halleyscbe Komef Benannt nach dem englischen Astronomen Edmund Halley
(1656-1742). Er beobachtete 1682 diesen Kometen, dessen Wiederkehr er fiir 1759
vorausberechnete, und der 1835 und 1910 erneut in die Erdatmosphare eintrat.
die Goethe so verspottet hat in «Dichtung und Wahrheiu: Im 3. Teil, 11. Buch, Seite 57
der Herausgabe in der Deutschen Nationalliteratur, 100. Bd., Goethes Werke XIX.
Paul Heinrich Dietrich Freiherr von Holbacb, 1723 - 1789, franzosischer Schriftsteller
deutscher Abkunft.
122 JEs wird nun spdteren Vortrdgen uberlassen bleiben mussen . . . zurikkzukommen auf die
Geheimnisse des Matthdus-Evangeliums, um dann hineinzusteigen in die Tiefen des Mar-
kus-Evangelutms: Mur wenige Monate spater hielt Rudolf Steiner in Bern einen ganzen
Zyklus von Vortragen uber das «Matthaus-EvangeIium», GA Bibl.-Nr. 123, und im
Jahre 1912 in Basel liber das «Markus-Evangelium», GA Bibl.-Nr. 139.
den qffentlkhen Vortrag uber das menschliche Gewissen: Berlin, 5. Mai 1910 in «Meta-
morphosen des Seelenlebens*, GA Bibl.-Nr. 59.
127 William Shakespeare, 1564- 1616. Vgl. Vortrag Dornach, 24. Februar 1922 in «Alte
und neue Einweihungsmethoden», GA Bibl.-Nr. 210.
132 Leonardo da Vinci, 1452-1519. Raffael Santi, 1483-1520. Vgl. «Kunstgeschichte als
Abbild innerer geistiger Impulse*, GA Bibl.-Nr. 292 (Textband und Bildband).
137 «Lieber ein Bettler sein in der Oberwelt...»: Homer, Odyssee, XI. Gesang, Vers
488 - 491.
137f. Empedokles. . . als ich vor einigen Wochen unseren Palermoer Freunden uber ihren Empe-
dokles ... dasselbe sagen honnte, was ich Ihnenjetzt sagte: Mitte April 1910 hielt Rudolf
Steiner in Palermo Vortrage. Von dem Vortrag uber Empedokles gibt es keine Nach-
schrift.
141 am 8. Mai . . . unseren Gedenktag begehen: Vgl. den folgenden Vortrag, der im Gedenken
des Todestages der Griinderin der Theosophischen Gesellschaft, H.P. Biavatsky, die
am 8. Mai 1891 gestorben ist, gehalten wurde.
142 ojfentlicher Vortrag am ndchsten Donnerstag: Vgl. den 2. Hinweis zu Seite 122.
143 H.P. Biavatsky: Helena Petrowna Biavatsky (Jekaterinoslav, Sudrufiland 1831-1891
London) griindete mit H. S. Olcott am 17. November 1875 in New York die Theoso-
phische Gesellschaft, die ihr Zentrum bald darauf nach Indien (Adyar/Madras) verleg-
te. Siehe «Die okkulte Bewegung im 19. Jahrhundert und ihre Beziehung zur Weltkul-
tur», GA Bibl.-Nr. 254, sowie «Die Geschichte und die Bedingungen der anthroposo-
phischen Bewegung im Verhaltnis zur Anthroposophischen Gesellschaft*, GA Bibl.-
Nr. 258.
147ff. Arthur Drews, 1865-1-935. «Die Christus-Mythe», 1909. Zur Zeit der Vortrage
erschien eine vefbesserte und erweiterte Auflage (10. und 11. Tsd.) Jena 1910. Siehe
1. Teil: Der christliche Jesus. I. Der paulinische Jesus, und 2. Teil: Das Zeugnis des
Paulus. Der Vortrag «Hat Jesus gelebt?» erschien unter dem Titel «Berliner Religions-
gesprach. Hat Jesus gelebt? Reden uber die Christus-Mythe, gehalten am 31. 1. und 1.
2. 1910 von A. Drews u.a.», Berlin und Leipzig 1910.
151 Paulus-Zitat: 1. Korinther, 15, 14.
153 nacbdem die theosophische Bewegung bereits dreiftig Jahre in der Welt ist: Vgl. Hinweis zu
Seite 143.
158 H. S. Olcott, 1832-1907, vgl. Hinweis zu Seite 143.
in der Zeit um hundert Jahre hinausgeschoben: Vgl. hieriiber «Das Matthaus-Evange-
lium», GA Bibl.-Nr. 123.
161 in dem letzten offentlichen Vortrag: Vgl. 2. Hinweise zu Seite 122.
164 In diesem Sinne die Erkenntnistheorie attf die paulinische Basis zu stellen: Rudolf Steiner
basiert hier offensichtlich auf der Paulus-Stelle im 1. Korintherbrief, 8,2, die in der von
ihm benutzten Ubersetzung von Carl Weizsacker, Tubingen 1904, lautet: «Diinkt sich
einer etwas erkannt zu haben, so hat er noch nicht erkannt, wie man erkennen mufi».
UBER DIE VORTRAGSNACHSCHRIFTEN
Aus Rudolf Steiners Autobiographic
«Mein Lebensgang» (35. Kap., 1925)
Es liegen nun aus meinem anthroposophischen Wirken zwei Ergebnisse
vor; erstens meine vor aller Welt veroffentlichten Biicher, zweitens eine
grofie Reihe von Kursen, die zunachst als Privatdruck gedacht und
verkauflich nur an Mitglieder der Theosophischen (spater Anthroposo-
phischen) Gesellschaft sein sollten. Es waren dies Nachschriften, die bei
den Vortragen mehr oder weniger gut gemacht worden sind und die -
wegen mangelnder Zeit — nicht von mir korrigiert werden konnten. Mir
ware es am liebsten gewesen, wenn miindlich gesprochenes Wort miind-
lich gesprochenes Wort geblieben ware. Aber die Mitglieder wollten den
Privatdruck der Kurse. Und so kam er zustande. Hatte ich Zeit gehabt,
die Dinge zu korrigieren, so hatte vom Anfange an die Einschrankung
«Nur fiir Mitglieder» nicht zu bestehen gebraucht. Jetzt ist sie seit mehr
als einem Jahre ja fallen gelassen.
Hier in meinem «Lebensgang» ist notwendig, vor allem zu sagen, wie
sich die beiden: meine veroffentlichten Biicher und diese Privatdrucke
in das einfiigen, was ich als Anthroposophie ausarbeitete.
Wer mein eigenes inneres Ringen und Arbeiten fiir das Hinstellen der
Anthroposophie vor das Bewuiksein der gegenwartigen Zeit verfolgen
will, der mufi das anhand der allgemein veroffentlichten Schriften tun. In
ihnen setzte ich mich auch mit alle dem auseinander, was an Erkenntnis-
streben in der Zeit vorhanden ist. Da ist gegeben, was sich mir in
«geistigem Schauen» immer mehr gestaltete, was zum Gebaude der
Anthroposophie - allerdings in vieler Hinsicht in unvollkommener Art -
wurde.
Neben diese Forderung, die «Anthroposophie» aufzubauen und dabei
nur dem zu dienen, was sich ergab, wenn man Mitteilungen aus der
Geist-Welt der allgemeinen Bildungswelt von heute zu iibergeben hat,
trat nun aber die andere, auch dem voll entgegenzukommen, was aus der
Mitgliedschaft heraus als Seelenbedurfnis, als Geistessehnsucht sich
offenbarte.
Da war vor allem eine starke Neigung vorhanden, die Evangelien und
den Schrift-Inhalt der Bibel iiberhaupt in dem Lichte dargestellt zu
horen, das sich als das anthroposophische ergeben hatte. Man wollte in
Kursen iiber diese der Menschheit gegebenen Offenbarungen horen.
Indem interne Vortragskurse im Sinne dieser Forderung gehalten
wurden, kam dazu noch ein anderes. Bei diesen Vortragen waren nur
Mitglieder. Sie waren mit den Anfangs-Mitteilungen aus Anthroposo-
phie bekannt. Man konnte zu ihnen eben so sprechen, wie zu Vorge-
schrittenen auf dem Gebiete der Anthroposophie. Die Haltung dieser
internen Vortrage war eine solche, wie sie eben in Schriften nicht sein
konnte, die ganz fur die Offentlichkeit bestimmt waren.
Ich durfte in internen Kreisen in einer Art iiber Dinge sprechen, die
ich fur die offentliche Darstellung, wenn sie fur sie von Anfang an
bestimmt gewesen waren, hatte anders gestalten miissen.
So liegt in der Zweiheit, den offentlichen und den privaten Schriften,
in der Tat etwas vor, das aus zwei verschiedenen Untergriinden stammt.
Die ganz offentlichen Schriften sind das Ergebnis dessen, was in mir rang
und arbeitete; in den Privatdrucken ringt und arbeitet die Gesellschaft
mit. Ich ho re auf die Schwingungen im Seelenleben der Mitgliedschaft,
und in meinem lebendigen Drinnenleben in dem, was ich hore, entsteht
die Haltung der Vortrage.
Es ist nirgends auch nur in geringstem Mafie etwas gesagt, was nicht
reinstes Ergebnis der sich aufbauenden Anthroposophie ware. Von
irgend einer Konzession an Vorurteile oder Vorempfindungen der Mit-
gliedschaft kann nicht die Rede sein. Wer diese Privatdrucke liest, kann
sie im vollsten Sinne eben als das nehmen, was Anthroposophie zu sagen
hat. Deshalb konnte ja auch ohne Bedenken, als die Anklagen nach
dieser Richtung zu drangend wurden, von der Einrichtung abgegangen
werden, diese Drucke nur im Kreise der Mitgliedschaft zu verbreiten. Es
wird eben nur hingenommen werden miissen, dafi in den von mir nicht
nachgesehenen Vorlagen sich Fehlerhaftes findet.
Ein Urteil iiber den Inhalt eines solchen Privatdruckes wird ja aller-
dings nur demjenigen zugestanden werden konnen, der kennt, was als
Urteils-Voraussetzung angenommen wird. Und das ist fur die allermei-
sten dieser Drucke mindestens die anthroposophische Erkenntnis des
Menschen, des Kosmos, insofern sein Wesen in der Anthroposophie
dargestellt wird, und dessen, was als « anthroposophische Geschichte» in
den Mitteilungen aus der Geist-Welt sich findet.